MODE UND KULTUR

Gib dein Ziel niemals auf!

Die Mode und die Perspektive

Kleiner Raum – Mannequins vor der Modenschau „RAHUL MISHRA“ (Bild: Christian F. Janssen)

Von Christian F. Janssen — 6. Februar 2020
„Gib dein Ziel niemals auf“, hatte ein Lied des deutschen Sängers Harald Walter Bernhard Schubring alias Ted Herold im Jahre 1981 geheißen. Daran hielt sich auch der Pariser Modeschöpfer Imane Ayissi, bis er endlich sein Ziel erreichte; er war der erste Couturier schwarzafrikanischer Herkunft, dessen Modepräsentation in den offiziellen Kalender der Fédération de la Haute Couture et de la Mode aufgenommen wurde.

Am 23. Januar 2020 präsentierte Imane Ayissi unter dem Motto „AKOUMA“ die Couturekollektion für den Frühling und Sommer 2020 im Hôtel Le Marois. Das Wort „Akouma“ bedeutetet in der Ewondo-Sprache Kameruns Reichtum. Insofern spielte Imane Ayissi, für den Couture die „ultimative Form des Luxus in der Mode“ war, mit den verschiedenen Arten, Reichtum durch Kleidung auszudrücken. Goldene, glänzende, überdekorierte Kleidung in bestimmten Kulturen stand im Gegensatze zur schlichten, minimalistischen Kleidung europäischer intellektueller Eliten. Imane Ayissi stellte enorme Volumina bei einem sehr einfachen Schnitte des afrikanischen Kontinentes der komplexen Präzision „westlicher“ Schneiderei gegenüber. Imane Ayissi gab jedoch zu bedenken, daß Reichtum nicht dasselbe wie Kostbarkeit sei. So mochte ein Stoff oder ein ganzes Kleidungsstück einfach und bescheiden erscheinen, doch konnte es deshalb kostbar sein, weil dessen Fertigung viel Arbeit erfordert hatte. Afrika war reich an solchen Textilien, die in der übrigen Welt kaum beachtet wurden, aber wegen der Tradition, des einzigartigen Charakters kraft handwerklicher Präzision bei ihrer Herstellung und der fehlenden Reproduzierbarkeit in der Masse wertvoll waren. Beispielsweise galt das nicht gewebte Textil kamerunischen Ursprunges „obom“ aus geschlagener Baumrinde als ärmlich und sogar primitiv; nach einer Verwandlung zierte es als dreidimensionale Stickerei Seidenkleider. Quadratische Schnitte deuteten auf Boubou und Kimono hin. Die Zusammenarbeit mit afrikanischen Kunsthandwerkern brachte weitere Textilien hervor wie Kenté aus Ghana, Faso Dan Fani aus ökologischer Baumwolle aus Burkina Faso sowie Bast aus Kamerun und Madagaskar. Diese Stoffe kombinierte Imane Ayissi mit klassischen Luxusstoffen wie Seidensatin, Seidentafte und Stretchseidenkreppe sowie mit „Bio“‑Stoffen wie Hanfbrokate, Hanfcanvas und Yak-Ottomane.

Das Ziel des indischen Modeschöpfers Rahul Mishra war es, Arbeitsplätze zu schaffen, um den Menschen in ihren eigenen Dörfern zu helfen; er übernahm die Arbeit für sie und rief sie nicht dazu auf, für ihn zu arbeiten. Seine Philosophie bestand darin, daß stärkere Dörfer über einer stärkeren Nation zu einer stärkeren Welt führen sollten. Ein Streifzug in die Couture war eine bewußte Entscheidung, die darauf abzielte, einer bestehenden Nachfrage nach Mode gerecht zu werden, anstatt die Nachfrage erst erzeugen zu müssen. Der kalifornische Umweltschützer David Ross Brower hatte einst scharfsinnig bemerkt: „Wir erben die Erde nicht von unseren Vorfahren, wir leihen sie uns von unseren Kindern.“ Rahul Mishras vierjährige Tochter Aarna hatte sich angesichts der starken Umweltverschmutzung in Neu-Delhi nach einem strahlend blauen Himmel gesehnt; der Zeichentrickfilm „Madagascar“ der amerikanischen Regisseure, Drehbuchautoren und Animatoren Eric Darnell und Thomas McGrath aus dem Jahre 2005 hatte sie erstaunen lassen ob der Pflanzen und Tiere im Ökosysteme Dschungel. Daraufhin waren beide zur unberührten Wildnis an den Ausläufern des Himalayas gereist.

Als Rahul Mishra allein in Soneva Fushi auf den Malediven gewesen war, hatten ihn die sich ständig ändernden abstrakten Formen einer Diaspora aus Fischen, die auffälligen Korallen, das außerirdisch anmutende Unterwasserlaub sowie die unzähligen Blautöne des Meeres und Himmels beeindruckt. Der Weggang von Zuhause hatte neue Perspektiven eröffnet! Rahul Mishra fing die surreale Schönheit ein. Dreidimensionale Handstickerei in Gestalt von Flora und Fauna gab der Silhouette eine unverwechselbare Form. Sich von der anthropozentrischen Sicht auf die Natur zu entfernen und den Menschen als integralen Bestandteil des exponentiellen Naturkreises festzulegen, prägte die Kollektion. Der auf Schmuck spezialisierte indische Modeschöpfer Narendra Mehta und die gleichermaßen spezialisierte indische Modeschöpferin Dr. Anjali Bhimrajka steuerten die Juwelen bei. Es war wie bei den Kleidern ein Spiel mit figürlichen und abstrakten Darstellungen tropischer Landschaften. Flora, Fauna und geometrische Naturformen waren die Vorlage für Skulpturen, Motive und Muster. Rahul Mishra hatte übrigens in der letzten Saison die Menge hergestellter Kleidung um zehn Prozent verringert, aber der Qualität mehr Bedeutung beigemessen, so daß der Umsatz nach eigener Angabe um fünfzig Prozent gewachsen war.

Der japanische Modeschöpfer Yuima Nakazato verfolgte weiter das Ziel, maßgeschneiderte Kleidungsstücke in Harmonie mit der Individualität jeder Trägerin zu kreieren. Das Einheitensystem mit modularem Ansatze hatte er zum Verfahren „Biosmocking™“ fortentwickelt und dieses bereits in der letzten Saison vorgestellt. Es ermöglichte die Verwertung rechteckiger Stoffballen in Gänze, das heißt ohne überschüssigen Stoffabfall; Kleidungsstücke ohne Schnitt und Naht herzustellen, schuf hinsichtlich Größe und Dessin unendlich viele Anpassungsmöglichkeiten. Daneben hatte er zusammen mit den Biotechnologen der schwedischen Spiber Technologies AB eine Textilmodellierungsmethode zur Erzeugung dreidimensionaler Texturen durch eine präzise Steuerung der Superkontraktion besonders zugeschnittener nachhaltiger „Brewed Protein™“-Filamentgarne entwickelt. Mit Garnen recycelter Seide vermischt, erhielten jene Garne Glanz und eine strahlende Farbe. Die neue Kollektion beruhte auf beiden Verfahren. Der aus rechteckigen Stoffteilen gefertigte Kimono eignet sich für eine Vielzahl von Körpertypen, weil er durch die Gestaltungstechnik namens Kitsuke an den Träger angepaßt werden kann; „westliche“ Kleider sind hingegen mit ihren zusammengenähten geschwungenen Teilen auf die Form des menschlichen Körpers zugeschnitten.

Die im Nationaltheater von Chaillot gezeigte Kollektion stellte unter Verwendung rechteckiger, auf den menschlichen Körper abgestimmter Teile eine Verschmelzung beider Kleidungstraditionen dar. Nietenverschlüsse hielten die Einzelteile beziehungsweise Module zusammen. „Brewed Protein™“-Stoff und recycelte Seide waren ebenfalls die Materialien für Stiefel samt handgefertigter Holzsohle, die nach dem Geschmacke der jeweiligen Trägerin mit Strickaccessoires individuell gestaltet und in der Höhe verändert werden konnten. Der umweltfreundliche Schmuck bestand entweder aus recycelten Glasflaschen oder aus „Brewed Protein™“-Harzperlen, welche Messing und Felsmalerei verfeinerten. Der in den Werken des japanischen Manga-Zeichners, Regisseurs und Arztes Osamu Tezuka durch Raum und Zeit fliegende Phönix als Symbol sowohl für die Stärke als auch für die Torheit der Menschen bewog Yuima Nakazato, über die Kostbarkeit des Lebens nachzudenken, was seine Sicht auf die zeitgenössische Bedeutung von Schönheit veränderte.

Für die Modenschau in der Veranstaltungsstätte „Garage Lubeck“ wollte die niederländisch-vietnamesische Modeschöpferin Xuan-Thu Nguyen die Zeit anhalten und den Moment mit einem Bilde einfangen. Ein Ausbruch der Energie in Farben und fragilen Texturen war die Kollektion, die aus einer Zusammenarbeit mit sechsen verschiedenen Künstlern hervorging. Indem diese Künstler eine eigene Geschichte erzählten, entwickelten sie ein persönliches Gefühl für die Welt und zugleich einen sehr persönlichen Raum in einer fernen Atmosphäre, so daß ein freier Raum der Reflexion entstand. Die an der Nationaloper von Paris als Perückenmacherin und Maskenmacherin arbeitende Muriel Nisse orientierte sich beispielsweise an Haarmaterialien und Stickereien mit einer Vielzahl von Einflüssen wie Mythologie, Pekingoper, symbolischer Malerei, afrikanischer Haarkultur, subaquatischen Kreaturen und Insekten. Um im Bilde zu bleiben, liefen die Mannequins konsequenterweise um Staffeleien mit Bildern herum.

Die Modeschöpferin Juana Martín aus Córdoba entführte ihre Gäste in die Tiefen der andalusischen Kultur. Ihre Heimatstadt, wo jeder Innenhof im Frühlinge blüht, war von jeher eine wichtige Inspirationsquelle und auch ein Talisman für sie. Die spanische Schauspielerin Rosa Elena Garcia Echave alias Rossy de Palma erweiterte die Modenschau in der Residenz des Botschafters des Königreiches Spanien um eine Tanzeinlage.

Weitere Bilder