MODE UND KULTUR

Der i‑Punkt

Die Mode und die Wahrheit

Kontrastreich – die Mannequins Aissata Dia Malick alias Atasia Dia und Ashanti Hildreth vor der Modenschau „ICEBERG“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 8. November 2019
Bei der in San Giovanni in Marignano nahe Rimini beheimateten Marke „ICEBERG“ befaßte sich deren Kreativer Leiter James Long mit dem Gedichte „Warnung“ der englischen Dichterin Jenny Joseph aus dem Jahre 1961: „Wenn ich eine alte Frau bin, soll ich Purpur tragen / Mit einem roten Hute, der nicht geht und mir nicht steht. / Und meine Rente soll ich aufwenden für Brandy und Sommerhandschuhe / und Satinsandalen, und sagen, wir hätten kein Geld für Butter …“ Solche Leichtigkeit und solches Selbstvertrauen waren der Ausgangspunkt der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2020.

Vom Meer ans Land gelangte eine Sylphe als Muse, die sich in ihrer Haut sichtlich wohlfühlte. Für Stoffdrucke gab es das „i“‑Motiv. Ein derart bedrucktes Kleid aus Tülle in Maxilänge glitzerte wie Wasser, während darunter eine Hose mit fischschuppigen Pailletten schillerte. Weiße, längliche Tüllkleider, die wie ein schützender Rash‑Guard wirkten, hatten neben Pailletten eine sanft plissierte Flossenfront; daneben existierte eine gleichermaßen langbeinige und sportlich-kurze Version. Neongelb leuchtende Akzente bedeckten einen weißen Sportanzug, wobei die Silhouette durch ein Netz weicher wurde. Eine mit purpurnen Pailletten bestückte, einreihige Jacke, eine Badehose und ein Kapuzenpullover aus farblich darauf abgestimmtem Seidensatin bildeten eine erstaunliche Kombination. Ein sportliches Synchronschwimmerkleid „gewann Gold“. Der abenteuerlustige Geist einer Meermaid mit Grunge-Einstellung war am neuen „i“‑Hahnentrittmuster erkennbar, wo Rot, Rosa und Gelb aufeinander prallten. Dies betraf einen Hosenanzug, der sich aus einer einreihigen Jacke und schmalen Hose zusammensetzte, einen T‑förmigen Wellenreiteranzug, Bermudashorts inbegriffen, sowie einen aus Wolljacquard gestrickten Badeanzug, welchen der Stil der amerikanischen Sängerin und Schauspielerin Kimberly Denise Jones alias Lil’ Kim prägte; Tüll kam hinzu. Ein Cartoonmotiv befand sich an einem lässig geschichteten, klassischen Pullover. Unter einer Bomberjacke aus Tülle stak ein schwarzer, mit Pailletten versehener Badeanzug. Fast vollständig in der Stadt versunken, erhielt die Meermaid durch muschelrosa Flossen auf schwarzem Grunde eine robuste Kante. Den architektonischen Graphiken bei Frisur und Maquillage lag das Werk der aus dem Irak stammenden, britischen Architektin und Gestalterin Dame Zaha Mohammad Hadid zugrunde. Das Freibadgelände der Veranstaltungstätte „Bagni Misteriosi“ in Mailand war der Ort der Modenschau am 20. September 2019. Die musikalische Untermalung verantwortete der weibliche Diskjockey Siobhan Bell aus London. Nebenher stellte die nigerianische Liedermacherin und Sängerin Tiwatope Savage alias Tiwa Savage ihr neues Lied „4999“ vor.

Der Mailänder Modeschöpfer Antonio Marras ist ein Geschichtenerzähler. So erfand er das Märchen „Die wahre Geschichte von Shiro und Baingio“ von der in der japanischen Burg Himeji beziehungsweise Shirasagijō lebenden, wunderschönen, siebzehnjährigen Prinzessin Michiko, genannt Shiro – es bedeutet weiß oder Zitadelle –, die aus einer arrangierten Ehe mit einem viel älteren, reichen und mächtigen Samurai dank ungeklärtem Zauber nach Sardinien, Antonio Marras’ Heimat, entkam und sich dann in den attraktiven Hirten Baingio verliebte; der Zufall riß sie auseinander, doch zu guter Letzt sahen sie sich wieder. Basis der Kollektion war die traditionelle japanische Kleidung. Alte, von Antonio Marras gesammelte Kimonos waren der Anfang. Aufwendige Stickerei machte Kleider exzentrisch. Stickereien, Pailletten und Anstecknadeln erstreckten sich in Schichten über Brokat. Bouclé, Jersey, Serge de Nîmes und Seide fanden sich zu einem Stückwerke zusammen. Einflüsse gingen von der Yankii-Hochschulsportkleidung der Nachkriegszeit aus. Elemente aus der Militär- und Straßenbekleidung kamen hinzu. Verschiedene Materialien und Dekorationen verband Antonio Marras zu einer seiner typischen Modekollagen. Die aus Voghera nahe Pavia stammende und in Mailand tätige bildende Künstlerin Lucia Pescador steuerte photographische Geishamotive für Stoffdrucke bei. Seltsam muteten allerdings rosa Strumpfhosen in Zehenstegschlappen an. An der Seite wurden manchmal Kleidersäcke aus Baumwolle getragen. Die Modenschau auf der Bühne des Theaters „elfo puccini“ gliederte sich in vier Akte. Zwischen den Akten traten Theaterschauspieler, die sich aufs sowohl japanische als auch sardische Theater bezogen, mal mit roten Sonnenschirmen, mal mit Masken, mal mit Kissen samt aufgemalten Gesichtern als Tableaux Vivants auf. Das Konzept eines interkulturellen Dialoges war bewundernswert, aber leider kamen die Modelle wegen der schwachen Theaterbeleuchtung kaum zur Geltung.

Die Eröffnung einer neuen eigenen Boutique feierte die Mailänder Modeschöpferin Simonetta Ravizza mit einer Kollektion, die eine Hommage an Mailand mit seiner raffinierten, diskreten, modernen Eleganz war. Eng anliegende Trenchcoats aus sehr weichem, durchbrochenem, schwarzem Nappaleder in Maxilänge wiesen glänzende Lacklederdetails auf; bequeme Robenmäntel waren deren Vorlage. Sehr leichtes Lammfell frei von Grannenhaaren, beispielsweise in einem hellroten Lacktone, hatte eine weiche Textur, die sich wie Karakulschaffell beziehungsweise Breitschwanz anfühlte. Voluminös und luftig-leicht waren lange Kleider und weite Volantröcke aus krausem Seidenorganza mit aufgedruckten dunklen Tiermotiven. Sie paßten zu Bikerjacken aus schwarzem Leder und zu Trenchcoats und auch zu T‑Leibchen mit aufgesetzten Taschen aus geschecktem Ponyfelle. Silbernes Leder war das Material für übergroße Blazer zu Minishorts und für sportliche Anoraks zu kontrastierenden, konisch bis unters Knie reichenden Bleistiftröcken. Bleistiftröcke samt geräumigen Seitentaschen und Cargohosen mit schlanker Silhouette bestanden aus geschmeidigem, leichtem Leder. In dieser Saison erschien die Handtasche „Furissima“ unter dem Namen „Kiki Fur“ in einer Miniversion, um wie ein Anhänger an einem Gürtel getragen zu werden. Taschengurte aus Leder oder geschecktem Ponyfelle zeichneten sich durch Praktikabilität aus.

Weitere Bilder