MODE UND KULTUR

Nicht alternativlos

Gotik in der Mode

Eindrucksvoller Kopfputz – das Mannequin Neus Bermejo vor der Modenschau „Guo Pei“ (Bild: Christian F. Janssen)

Von Christian F. Janssen — 6. August 2019
„Orbis non sufficit – Die Welt ist nicht genug“, lautet seit dem Jahre 1969 die Devise der berühmten Filmfigur James Bond. Der chinesischen Modeschöpferin Guo Pei genügte das existierende Universum nicht mehr, so daß sie ein ganz neues Universum erschuf. Dort bestanden Licht und Dunkelheit nebeneinander, so wie Engel und Teufel nebeneinander agierten. Der Mensch war nicht mehr Herr der Welt, denn Affen saßen auf dem Throne des Herrschers unter Anleitung von Propheten. Götter erhielten eine menschliche, Menschen eine tierische, Pflanzen und Tiere eine göttliche Natur. Dies war der Hintergrund der Couturekollektion für den Herbst und Winter 2019/2020. Die Modenschau unter der Glaskuppel im Innenhofe der Höheren Schule der Schönen Künste in Paris am 3. Juli 2019 war unter dem Motto „Alternate Universe“ eine alternative Erzählung der Reinkarnation; der Tod war sonach nur ein weiterer Zustand der Wiedergeburt.

Die Schönheit des Lebens spiegelten die naturgetreuen Tiermotive – von der verführerischen Schlange der biblischen Schöpfungsgeschichte über die von der Musik von Apolls goldener Kithara angezogenen Tierherden bis zu den Affen in den Fabeln des altgriechischen Dichters Äsop –, wider. Als Botschafter und Propheten der Weisheit an der Grenze zwischen Leben und Tode hatten Krähen bei Guo Pei eine Hauptrolle. Guo Peis charakteristische dreidimensionale Stickerei brachte in Verbindung mit der „Laffitte“-Sticktechnik kraft lebensechter Texturen lebendige Bilder dieser Kreaturen hervor. Zu ihnen gesellten sich handgestickte Bienen, Schmetterlinge, Käfer und Spinnen. Die Silhouetten deuteten auf verschiedene Zivilisationen hin. Das altgriechische Konzept der unsichtbaren Form, nämlich die Eleganz der Göttin mit fließenden Linien und Vorhängen darzustellen, erlebte eine Wiederkehr. Auf die alten europäischen Königshöfe verwiesen die vornehmlich von Adligen getragenen Schnabelschuhe aus der Zeit der Spätgotik, die Halskrause aus der Barockzeit und die ovalen Reifröcke von Hofdamen aus der Rokokozeit. Dazu paßten Silber, helles Gold und helles Grau als Farbtöne. Ein besonderes Material war Ananashanf von den Philippinen. Mehr als vierhundert Jahre alt war das Verfahren der Gewinnung aus den Blattfasern von Ananaspflanzen sowie der folgenden Verarbeitung im Wege des manuellen Schleuderns, Spülens, Trocknens und Verknotens; leicht und dennoch hartnäckig, behielt dieser Hanf seinen ursprünglichen Zustand. Ein solcher Hanf mit lichtdurchlässiger, zarter Textur und in natürlicher Elfenbeinfarbe gewährleistete dank verschiedenen Nähtechniken vollkommene Silhouetten der Kleider im altgriechischen Stile, um deren Trägerinnen wie Göttinnen der griechischen Mythologie aussehen zu lassen. Überdies ließen mit der Hand gestaltete Falten zusätzlichen architektonischen Raum entstehen. Auf heißgestempelten Stoffen überlebten gleichsam antike griechische Schriftrollen. Strahlende Perlen, Federn und „SWAROVSKI“-Kristalle gaben die Eleganz von Genies und Plagegeistern (Goblin) wieder.

In der Residenz des Boschafters des Königreiches Spanien präsentierte die Modeschöpferin Yolanda Pérez aus Barcelona die Kollektion ihrer Marke „YOLANCRIS“. Unter dem Motto „TODAS LAS PRIMAVERAS DE UN INVIERNO“ löste ein auf der Op‑Art der 1960er Jahre beruhender Schwarz-Weiß-Gegensatz das farbenfrohe Spiel bei den vorigen Kollektionen ab. Das graphische Werk des französischen Modeschöpfers und Malers Louis Féraud wirkte sich auf die Konzeption und Gestaltung der Ornamente aus. Neben handvernähten Strass-Steinen war Stickerei reichlich vorhanden. Ein Hauch „Gotik“, eigentlich Neugotik, kam von den schwarz-romantischen Schauergeschichten des amerikanischen Schriftstellers Edgar Allan Poe wie auch den Bildern des britischen Illustrators, Graphikers und Karikaturisten Aubrey Vincent Beardsley sowie des irischen Glasmalers und Buchillustrators Henry Patrick Clarke alias Harry Clarke. Weitere Einflüsse gingen vom Jugendstile und von der Arts‑and‑Crafts‑Bewegung (1870–1920) aus. Die Schuhe gingen aus einer Zusammenarbeit mit den Machern der britischen Marke „SOPHIA WEBSTER“ hervor. Die Juwelen stammten von Tenerifa, genau gesagt von der Modeschöpferin Ros Jiménez, der Inhaberin der Marke „roselinde“, deren Inspiration die Landschaften der Kanarischen Inseln im Sonnenlichte gewesen waren.

Diesmal, und zwar am 4. Juli 2019, empfing der Pariser Modeschöpfer Eymeric François seine Gäste nicht in die Amerikanische Kathedrale von Paris, sondern im eigenen Atelier. Der Kollektion „CRUELLE CORSETERIE“ lag der Wunsch, auf Pariser Art zu verführen, zugrunde. Schwarz konfigurierte als Hauptfarbe den Körper. Die Modelle im Stile der 1950er Jahre, die mit ungewohnter Silhouette als Tribute an die weiblichen Kurven überraschten, bildeten einen Parcours durch die Atelierräume. Ein Schneiderkostüm aus lackiertem Leinen setzte sich aus einer skulptierten Jacke und einem geschlitzten Rocke zusammen. Blütenblätter aus Musselin in rosa-schwarzer Dégradémusterung zierten ein Korsett, das zusammen mit einer Hose aus schwarzem Brokate ein äußerst modernes Ensemble abgab. Zu einem korsettierten Négligé aus geschmeidigem beige Tülle bildete eine zarte schwarze Bandage ein Geflecht und Blattwerk. An einem Etuikleide mit handgemalten Posamenten wirkten alle schwarzen Kristalle zusammen wie ein leichter Schaum. Ein parmaviolettes, mit schwarzer Farbe handbemaltes, drapiertes, geschlitztes Kleid hatte einen breiten Reißverschluß. Lackiertes Plexiglas und Calais-Spitze waren die Materialien für ein Korsett. Bei einem langen Etuikleide über einem mattschwarzen Korsette in Blattwerkgestalt handelte es sich um schwarzen Seidensamt und Lurex. Lurexsamt und Roßhaar schwarz waren der Stoff ein kleines Korsett über einem langen Rocke aus Leinengrosgrain. Ein mit rosa Steinen besticktes Korsett aus transparentem Roßhaare und ein Rock aus geschmeidigem Tülle kamen als Kombination vor. Bänder aus Seidensatin und kalandrierte Calais-Spitze verschönerten ein langes Volantkleid. Schwarzer Neopren, schwarz lackiertes Plexiglas und Spitze ergaben ein Netzkleid. Mit türkis Perlen bestickter Seidenorganza ergänzte die schwarze Wolle eines langen, drapierten Kleides. Eine Blumenpracht schmückte die Schulterpartien eines Etuikleides aus schwarzem Lurex, während korsettierte Pailletten als Posamente fungierten. Schwarze Perlen und Steine formierten ein Tätowierungsmotiv bei der Stickerei an einem drapierten Korsettkleide aus gewaschenem lila Seidensatin. Schwarze, violette, fuchsienrote und pastelltönige Edelsteine bereicherten ein skulptiertes Korsett zu einem langen Rocke aus schwarzem und silberfarbenem Wollurex.

Antike Mosaiken faszinierten den Beiruter Modeschöpfer Ziad Nakad. Mosaiksteinchen beziehungsweise Würfelchen (tessella) und Spielwürfel (tessera) als Muster der Stickerei führten im Wege eines Wortspieles zum Namen der Kollektion: „TEΣΣERA“. Die Kollektion war konsequenterweise eine Ode an die Geometrie und Architektur. Übergroße oder asymmetrische Ärmel bewegten sich um betonte Taillen. Tüll erschien in einer Zusammenstellung mit Chiffon, Samte oder Spitze. Gold und Silber sowie Blau, Rot und Schwarz machten die am 3. Juli 2019 in der Veranstaltungsstätte „PAVILLON CAMBON CAPUCINES“ gezeigte Kollektion farbenfroh. Das Hôtel Le Marois war nochmals der Ort mehr als einer Modepräsentation. In die auf Strickkleider beschränkte Kollektion der zyprischen Modeschöpferin Maria Aristidou mit der Bezeichnung „Clair de Lune“ gelangten Wolle, Baumwolle, Seide, Samt, Viskose und Lurex aus Frankreich und Italien. In den Nachthimmel zu blicken und dem Zauber des Mondes zu verfallen, wenn das Mondlicht im steten Kampfe gegen die Dunkelheit die Nacht wie ein unsichtbarer Schleier verschönerte und sie stimmungsvoll machte, war für Maria Aristidou pure Romantik.

Die Modeschöpferin Elli Lyraraki aus Chania auf Kreta war zwar nach der Geburt in Athen aufgewachsen, ihre Familie war aber einem kleinen Dorfe nahe Heraklion auf Kreta entstammt, das im Altertume Alagni oder Alagonia genannt worden war. Kreta war die Insel gewesen, wohin Jupiter in Gestalt eines Stieres Europa entführt hatte; die Frucht ihrer beider Vereinigung war dann Alagonie geworden. Für Elli Lyraraki, deren Muttersprache Griechisch ist, bedeutete das Wort „Europa“ übrigens eine Frau mit großen, aufgerissen Augen. Nach dem Studium der Musik und Innenarchitektur hatte sie zusammen mit ihrem Ehegatten eine Werkstatt zur Herstellung von Sandalen, Sandaletten samt Keilabsatze, Ballerinas, Handtaschen, Ohrringen, Halsketten und Armbändern aufgebaut. Seither schufen sie beide Konfektionskollektionen überwiegend für den griechischen Markt. In Paris stellte Elli Lyraraki die Schuhe und Accessoires umfassende Kollektion „ALAGONIA“ vor. Die minoische Kultur als Ursprung europäischer Zivilisation war die Inspiration zu fünfzehnen Schuhmodellen. Die Gestaltung der Schuhe – es waren handgefertigte Einzelstücke – beruhte auf einer Zusammenarbeit mit der kretischen Archäologin Ioanna Kalypso Glypti und mit diversen Handwerkern, beispielsweise zur Frage des Auftragens von Wachse auf Seide oder im Hinblicke auf die Sticktechnik mit Endlosfäden im sechzehnten Jahrhunderte. Die Batik an den Schuhen ging auf Maler zurück. Ein von Goldschmieden aus Edelsteinen und Halbedelsteinen hergestelltes Schmuckelement war nach der vom Britischen Museum in London aufbewahrten Vorlage die goldene Biene, deren Augen für die Schuhe aus Rubinen, für die Ohrringe aus schwarzen Brillanten und für die Halsketten aus Smaragden bestanden. Lapislazuli, bereits von den Minoern verwandt, fand beim Bullen Verwendung. Accessoires waren die in Batiktechnik handbemalten Foulards aus Seide. Ferner war der Vourgali, ein für Kreta typischer Beutel, die Vorlage der handgefertigten Einstecktücher aus Seide, worauf mit einem durchgehenden Faden das Symbol von Alagonia, nämlich die kleine Blume auf den Fresken in Knossos, genäht war.

Zum Gedenken an den am 18. November 2017 in Paris verstorbenen Modeschöpfer Azzedine Alaïa bereicherte die Ausstellung „AZZEDINE ALAÏA ANOTHER WAY TO LOOK AT FASHION THE TATI COLLECTION“ die Modewoche. Es ging um die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 1991, deren Name sich aus der Zusammenarbeit mit der TATI DIFFUSION SASU erklärte. Bei der Zusammenarbeit hatte Azzedine Alaïa erfahren, daß der Gründer der für Kleidung zu niedrigen Preisen bekannten französischen Ladenkette auch ein Tunesier gewesen war. Daneben hatte er eine andere Art, Mode zu betrachten, gelernt. Den markenrechtlich geschützten Stoffdruck in rosa-weißer Vichykaromusterung, worauf ihn sein Freund, der amerikanische Maler und Filmregisseur Julian Schnabel, aufmerksam gemacht gehabt hatte, hatte der stets neugierige Azzedine Alaïa um eine schwarz-weiße und eine blau-weiße Variante ergänzt. Er war stolz gewesen darauf, seine Welt der Couture mit dem Straßenleben verbunden zu haben. Die von seinem langjährigen Lebensgefährten, dem Hamburger Maler Christoph von Weyhe, sowie seiner engen Freundin, der italienischen Redakteurin und Galeristin Carla Sozzani, kuratierte, am 30. Juni 2019 eröffnete Ausstellung wird bis zum 5. Januar 2020 in den Räumen der im Jahre 2007 gegründeten ASSOCIATION AZZEDINE ALAÏA zu sehen sein.

Weitere Bilder