MODE UND KULTUR

Romeo und Julia auf dem Laufstege

Die Mode und das goldenene Zeitalter

Hoch lebe die Braut! – das Mannequin Maeva Coucke nach der Modenschau „GEORGES CHΛKRΛ Couture“ (Bild: Christian F. Janssen)

Von Christian F. Janssen — 3. August 2019
In der Kavatine Figaros (Nr. 3) der Opera buffa „Le nozze di Figaro“ (KV 492) des deutschen Komponisten Wolfgang Amadeus Mozart nach dem Libretto des italienischen Dichters Emmanuele Conegliano alias Lorenzo Da Ponte aus dem Jahre 1786 heißt es: „Will der Herr Graf ein Tänzchen nun wagen …“ Der Pariser Modeschöpfer Julien Fournié ließ jedoch zum zehnten Jubiläum das berühmte Stück „Tanz der Ritter“ (Nr. 13) aus dem Ballette „Romeo und Julia“ op. 64 des russischen Komponisten Sergei Sergejewitsch Prokofjew aus dem Jahre 1935 erklingen, als er mit dem Mannequin, welches soeben das Brautkleid als letztes Modell der Couturekollektion für den Herbst und Winter 2019/2020 vorgeführt hatte, zum Finale der Modenschau am 2. Juli 2019 auf dem Laufstege in der Kirche Oratoire du Louvre einen Walzer tanzte.

Das goldene Zeitalter der Filmmetropole Hollywood durchdrang den Beiruter Modeschöpfer Georges Chakra. Die eigentümlichen Attitüden und Allüren der schauspielernden „Kinolegenden“, und zwar die Raffinesse der Amerikanerin Margarita Carmen Cansino alias Rita Hayworth, die Blondheit der Britisch-Amerikanerin Dame Olivia Mary de Havilland, die zarte Weiblichkeit der Britisch-Niederländerin Audrey Kathleen Ruston alias Audrey Hepburn und der Glamour der Amerikanerin Betty Joan Perske alias Lauren Bacall, vereinten sich zu einer sprudelnden Inspirationsquelle. Georges Chakra wurde Regisseur und inszenierte unter dem Titel „Golden Age“ die Modenschau im Palais de Tokyo als eine Abfolge zeitloser Klassiker. Kleider hatten entweder Boden- oder ⅞‑Länge. Trägerlose Kleider samt Schleppe, fließende Hosenanzüge und Korsettjacken samt strukturierten Schulterpartien traten hinzu. Von einem Samtgürtel in eng miteinander verwandten Farbtönen unterstützt, machten handgenähte Pailletten an Jumpsuits ein schwarzes Spiel, während von Federn und „Rhodoïd“-Streifen eine graphische Leichtigkeit ausging.

Ein blattartig bestickter Bolero war leicht und weich wie eine Wolke. Im Sinne einer „erogenen Transparenz“ enthüllte er so viel, wie er verhüllte. Die von Lasern geformten rigorosen Asymmetrien trafen auf sinnlich wirbelnde Stoffe. Architektonische Möglichkeiten eröffneten sich. Ein Ballonärmel, womöglich bestickt wie eine Luxusrüstung, modellierte eine nackte Schulter. Bürgerliche Zartheit drückte sich in runden Halsausschnitten aus. Dem standen offenherzige Décolletés und verfeinerte Bustiers mit klaren Federn, welche die sich erhebenden Brüste freigaben, gegenüber. Lamé erzeugte Spiegelungen so brillant wie ein Spielfilm. Rasiertes Kunstnerzfell schimmerte wie Moiré. Bei der Stickerei sprudelten Kristalle und Gagatperlen. Funkelnde Quasten tanzten bei jeder Körperbewegung. Die Materialzusammenstellung war ohnehin opulent: Chantilly- und Guipure-Spitze, Seidenduchessesatin, plissierter und bestickter Tüll auf Seidenkreppe, Seidenorganza sowie Seidengaze. Die Farbpalette umfaßte Schwarz, Weiß, Kobaltblau, Anisgrün, Karthäusergrün, Champagnergelb, Karmesinrot und Gold in verschiedenen Schattierungen. Die Kollektion war wie ein Spielfilm facettenreich; jedes Kleidungsstück half der Trägerin, sich wie ein Filmstar in Szene zu setzen.

Eine neue Vision benötigte das Pariser Modehaus „Schiaparelli“. Ein Spaziergang zwischen Manhattan und Chinatown im Dezember 2018 hatte Daniel Roseberry, seit November 2018 dessen kreativer Leiter, von einer Welt in eine andere geführt, wonach er sich an den Zeichentisch seines neuen New Yorker Studios gesetzt hatte, um Handschuhe und eine Kapuze zu skizzieren. Für ihn waren Snobismus, Zynismus und Weltenmüdigkeit die Feinde des Künstlers, denn ein Künstler zu bleiben bedeutete, am Überschwange, an der Naivität und am Gefühle des Staunens festzuhalten; Kreativität schritt nur voran, wenn man alles loslassen konnte, was man zu wissen glaubte. Die neue Kollektion war das, was er sich in dem kleinen Studio ausgedacht hatte, nämlich die Geschichte dieses Dezembers, und zwar in dreien Kapiteln. Das erste Kapitel betraf die Tagesbekleidung. Von der Herrenbekleidung beeinflußte Schneiderei erhielt phantastische Elemente, die mit Abendbekleidung in Verbindung gebracht werden konnten. So hatten Wollanzüge ein mit Perlen besetztes Wollätzchen. Eine Innovation war an der Optik überfärbter Faille sichtbar; diese in kleinen Stapeln handgefärbte Faille war geschlagen worden, um den natürlichen Charakter und die natürliche Maserung des Stoffes zu zerstören, um wiederum die Zähigkeit des Materiales zu verändern.

Tiefe, satte Farben wie Safrangelb, Marineblau und Schwarz kamen vor. Interieurs wie die grünen Samtsofas im Hotel „GRAND HOTEL ET DE MILAN“ in Mailand und ein graues Wollsofa an einer burgunderroten Wand prägten die Kleidungsstücke. Den Ausschmückungen lagen die verstörenden, primitiven Skulpturen des amerikanischen Malers und Bildhauers Jack Whitten zugrunde, während die Skulpturen mit ausgestopften Strümpfen der britischen Bildhauerin, Installationskünstlerin und Photographin Sarah Lucas die Vorlage einer Steghose in dreien Varianten waren. Ein Schaum aus Tülle ließ überdies eine Anzugsjacke blühen. Es war, mit einem Augenzwinkern, eine Ablehnung der Idee konventioneller Weiblichkeit. Im zweiten Kapitel zur Nacht gingen Dekorative Kunst und ein verdrehter Surrealismus eine merkwürdige Verbindung ein. Brutalität und Glamour prallten im Dunkeln aufeinander. Alles sollte sich wie „Anti-Dessin“ anfühlen. Im dritten Kapitel ging es um die Traumphase, wo der Geist wanderte und wo sich die schiere Phantasie entfaltete. Hier drückte die Kleidung das reine Vergnügen, sich zu verkleiden und zu schmücken, aus. Die Farbe der Kleidungsstücke und die Juwelen veranschaulichten zusammen eine besondere Intimität zwischen Modeschöpfer und Trägerin. Auf die morgendliche Modenschau folgte eine abendliche Feier im Hauptquartiere.

Nomaden waren in dieser Saison ein beliebtes Thema. Nachdem sich der aus Pakistan stammende und in Australien tätige Modeschöpfer Aleem Yusuf am 1. Juli 2019 dieses Themas angenommen hatte, zeigte der mexikanisch-kanadische Modeschöpfer Antonio Ortega am 2. Juli 2019, daß der für Nomaden übliche tägliche Kampf mit den Elementen der Natur der Freude an Stile und Eleganz nicht entgegenstand. Sein Nomadismus entsprach der neuen Zeit, wo Kunstpelz, Leder, Seide, Tüll, Baumwollspitze und Nylon echten Pelz und Rohleder aus den asiatischen Steppen ersetzten. So war Pelz zum Schutze vor Kälte und als Dekor in der Kollektion zwar allgegenwärtig, war aber tatsächlich nach dem neuesten Stande der Technologie hergestellter Kunstpelz. Der beliebte Kontrast fehlte keineswegs; feine Spitze traf auf wilde Kunsthaare, während ein Element, das aus der Ferne wie ein grobes Seil aussah, in der Tat ein aus metallischem Thermomateriale angefertigtes Tuch war. Die rechteckige Form von Plätzen war maßgeblich für die Dekoration an den Kleidungsstücken und stand für die im Leben von Nomaden überaus wichtigen vier Himmelsrichtungen. Modelle trugen „primitive“ Symbole wie einen Auerochsen, wenngleich moderne Nomaden solche Tiere fürs Überleben nicht mehr zu töten brauchten. Geflochtene Elemente dienten ebenso zur Verschönerung der Kleidungsstücke wie Lederzusätze. Bei den Schuhen wechselten bunte, haarige Stücke und Stücke samt dreidimensional gedrucktem Absatze einander ab. Ein wilder, aber futuristischer Geist durchwehte die in der Residenz des Botschafters von Kanada in Paris gezeigte Kollektion „NOMADE“.

Das süße Wesen der Blumen ergründete der Modeschöpfer Steven Khalil, der sein Modehaus in Paddigton in Neusüdwales im Jahre 2003 gegründet hatte, um blühende Trachten zu erschaffen. Er erkannte die Zerbrechlichkeit, so daß er die Modelle seiner am 1. Juli 2019 im Hôtel Le Marois gezeigten Kollektion behutsam wie Blumen behandelte. Auf handgeschnittener puderrosa Seidengeorgette verlief ein feiner Metallfaden kreuz und quer, was wie eine Weintraube wirkte. Das florale Thema zeigte sich auch an kleinen glänzenden Staubblättern. Stark bestickte Kleidungsstücke erschienen wie Laub, das sich in einzelne Büschel aufteilte. Prächtiger, profunder Seidensamt bildete einen Kontrast zur matten oder glänzenden Stickerei. Silberfarbene, gagatschwarze und spanischgrüne Metallperlen brachten mehr Glanz und Brillanz, was die Textur verstärkte. Um den Glanz weiter zu steigern, spielte Steven Khalil nicht nur mit Überlagerungen, sondern er setzte auch einen Raphiabastbüschel mit silberfarbener Metallbasis ein. Die Farbpalette umfaßte noch Heidelbeerblau und Jadegrün. Eine spektakuläre Silhouette paßte zur starken und leidenschaftlichen Trägerin.

Inspirationsquelle für die Schmuckkollektion der Marke „BAROQCO“ war die bis heute lebendige kulturelle Tradition im Gebiete des ehemaligen Fürstentumes Mangkunegaran in der Region Surakarta im Zentrum der indonesischen Insel Java, da Fürst Mangkunegara V. (1881–1896) im Jahre 1889 die Weltausstellung in Paris besucht hatte, um die javanische Kultur nach Frankreich zu bringen. Die Modeschöpfer Imelda Liem und Eduardo Liem schufen Schmuckstücke, welche jene Überlieferung widerspiegeln sollten. Palladium oder 24karätiges Gold, jeweils plattiert, waren die Materialien für Ornamente im Schmuckstückrahmen mit festen „SWAROVKSI“-Kristallen; bei einigen Schmuckstücken kamen Stränge von Perlen aus Halbedelsteinen aus verschiedenen Ländern wie Indonesien und Brasilien als Bereicherung hinzu. Der Mangkunegaran-Stil prägte mit den fürstlichen Farben Grün, Gelb beziehungsweise Gold, Schwarz und Blau die erste Serie; die Ornamente strahlten in der Rohfarbe des Antikgoldes. Der für Java typischen tropischen Flora und Fauna entstammten die Motive der zweiten Serie; die Ornamente erschienen in der Rohfarbe des Palladiums oder Antiksilbers. Zur Beschichtung diente recyceltes Silber, um die Umwelt zu schonen. In der javanischen Philosophie hatten Farben eine Schutzfunktion. So wirkten Grün gegen Frustration, Gelb beziehungsweise Gold gegen Schläfrigkeit, Schwarz gegen Hunger, Blau gegen Krankheit, Violett gegen schlechte Gedanken, Rot gegen Böses, Orange gegen Angst und Weiß gegen Begierde. Am 2. Juli 2019 wurden die Schmuckstücke zusammen mit den Kleidern einer Couturekollektion des griechischen Modeschöpfers Vassilis Zoulias im Hôtel Le Marois vorgeführt.

Unter dem Motto „Litter“ stellten die hinter der niederländischen Marke „SCHŪLLER DE WAAL“ stehenden Modeschöpfer Philipp Schueller und Rens de Waal zusammen mit den französischen Vereinigungen „Pik Pik Environnement“ und „green bird Paris“, die sich im Bereiche der Mülltrennung und des bewußten Lebens engagieren, sowie mit Unterstützung der Pariser Stadtverwaltung ihre erste „kollaborative Reinigungsinitiative“ vor. Am 2. Juli 2019 sammelten fünfzig Mannequins und freiwillige Helfer vor der Bürgermeisterei des 15. Arrondissements Abfall von den Straßen ein. Angetrieben vom Gedanken, frühere Kollektionen wiederzuverwenden und ihnen einen neuen Kontext zu geben, trugen die Mannequins „frisch gemachte“ Kleider aus Stoffresten des Modeateliers und aus sonstigen Überresten der Bekleidungsindustrie. Dieses Abfallkonzept beinhaltete multifunktionale Reinigungsuniformen als Arbeitskleidung in Einheitsgrößen. Durch Gurtsysteme ließen sich die Uniformen auf verschiedene Arten tragen, was eine Variation der Silhouette ermöglichte. Die Redewendung „Ärmel hochkrempeln“ bestimmte das Erscheinungsbild. Die Veranstalter verstanden diesen Akt als weiteren Schritt einer „Modetherapie“, um einen Wandel in der Modebranche anzuregen.

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