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Gipfelstürmer

Die Mode als lebendes Kunstwerk

Stern voraus – das Mannequin Qi Liu vor der Modenschau „Francesca Liberatore“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 7. Mai 2019
Auf halbem Wege zwischen alchimistischem Labor und technologischem Atelier befand sich die BELUMBURY FASHION GROUP SRL mit dem Sitze in Mailand, welche Stefano Maccagnani, aus Turin stammend und in Rom als Unternehmer in den Bereichen Automotive, Biomedizin und Informationstechnik tätig, im Jahre 2016 als Inhaberin der zugleich geschaffenen Marke „AU197Sm“ gegründet hatte. Für ihn und Paola Emilia Monachesi, die kreative Geschäftsführerin, war Kleidung sowohl eine zweite Haut als auch eine Schutzhülle. Eine auf Forschung, Fortschritt und Zukunft ausgerichtete innovative Vision war die treibende Kraft zu einer utopischen Mode. Ein hohes Maß an Technologie gewährleistete das avantgardistische und futuristische Aussehen der Kleidung für jemand, der in allen Lebensbereichen zum Gipfel klettern wollte, wobei die Synthese aus Ästhetik und Darbietung nie die italienische Modetradition verleugnete. So erklärte sich die an Science Fiction gebundene Bildsprache.

Technologie wurde bei der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2019/2020 faßbare Realität, um über Trends hinaus einen innovativen Stil für zeitgenössische Frauen zu schaffen. Technologische Stoffe beruhten auf einer patentierten Technik zur Verbindung 24karätigen Goldes, Weißgoldes, Rotgoldes, Platins, Silbers oder Plexiglases mit feinen Baumwoll-, Seidenorganza-, Chiffon- oder Lederfasern. Angepaßte technologische Stoffe gingen überdies aus besonderen Handwerksverfahren hervor. Nanotechnologie und handwerkliche Kunstfertigkeit standen somit in Wechselwirkung. Ultraschallnähte, die Funktionalität in den Mittelpunkt des kreativen Prozesses rückend, verschmolzen dann Formen und Farben so miteinander, als ob sie aus derselben Quelle kämen. Naturwolle mit Ultraschallbehandlung und Gaze mit Kristallverzierung waren weitere Materialien. Luxuriöse Ausschmückungen und bahnbrechende Techniken bereicherten saisonale Materialien, indem sie selbige dem Konzepte der „Luxus-Straßenbekleidung“ getreu erleuchteten. Echte und unechte Perlen sowie mehrfarbige Paisley-Motive erhöhten das Reflexionsvermögen des Hauptstoffes. Die Details waren so vielfältig, daß es bei jedem Kleidungsstücke das für die Art und Form des Stoffes passende Detail gab. Ein schimmernes Band begrenzte jeden Schnitt, zeigte jede Asymmetrie auf und beleuchtete die Konturen, wobei ein Lichtstrahl entstand, um die „goldene Essenz des Geistes und der Zukunft“ darzustellen. Das Ergebnis war ein äußerst technischer, vielseitiger Stil für eine Vielzahl Kleidungsstücke. In der gesamten Kollektion wechselten Karabinerhaken und reflektierende, irisierende Einsätze einander ab, was an den präzis geschnittenen Kleidungsstücken einen Glanzeffekt erzeugte. Graphische Symbole waren poppig oder respektlos. Die Farbpalette umfaßte Ziegelrot, Purpur, Cremeweiß, reines weiß, Grau und Schwarz. An den Füßen fielen Sneaker aus irisierendem Lackleder auf. Halskette, Anhänger und Ohrringe hingen unmittelbar an den ungewöhnlichen „Wuthering Heights“-Hüten. Die Modenschau im Palais der Gesellschaft für die Schönen Künste und Dauerausstellungen am 23. Februar 2019 war nicht nur eine Kleidungsvorführung, sondern auch ein emotionales Erlebnis.

„Ich möchte ein lebendiges Kunstwerk sein“, hatte Luisa Casati Stampa di Soncino, Marchesa di Roma, die extravagante Modeikone des frühen 20. Jahrhundertes, Kunstmäzenin und extrovertierte Gastgeberin in ihrem prächtigen venezianischen Palazzo, einst erklärt. Mit ihrer teilweise unverschämten Lebensweise paßte sie als Muse vortrefflich zum Mailänder Modeschöpfer Giuseppe di Morabito mit seiner markanten Ästhetik. Er entwickelte aus ihrem opulenten und schrulligen Stile unter Bezugnahme auf die 1980er Jahre eine vielseitige und äußerst feminine Lösung für die verspielten Maiden heute. Eine von Korsetten beeinflußte Konstruktion gab drapierten, rasiermesserscharf geschnittenen Kleidern in Mini- oder Midilänge samt aufgebauschter Schulterpartie und mit geschnürten Details ein elegantes „Retro“-Aussehen. Schwarz, Purpur, Smaragdgrün, Pfauenblau und Gold waren die nächtlich wirkenden Töne für solche Kleider. Schneiderjacken waren als Minikutten zu tragen. Kompliziert drapierte Röcke oder Faltenröcke paßten zu Bustiers oder einschultrigen Tops, welche manchmal orientalische Details aufwiesen und Sinnlichkeit ausstrahlten. Für besondere taktile Effekte gab es mit Pailletten bestickte Seide, laminiertes Tuch mit Leopardenmotiven und ökologisches Ponyfell; hinzu kamen graphische Blumenmotive im Stile der 1920er Jahre und Metallnetze. Gewisser Zierrat ließ Stiefel mit geschwungenem Absatze aus buntem, mit exotischen Hautmustern bedrucktem Leder wie Juwelen funkeln. Im Sinne der dekorativen Kunst bedeckten Kristalle übergroße Ohrringe, Armbänder und henkellose Handtaschen. Die Kollektion präsentierte Giuseppe di Morabito auf der Bühne des Theaters „Gerolamo“.

Am 22. Februar 2019 debütierte die Modeschöpferin Laura Aparicio aus Bogotá in Kolumbien, die als Absolventin der Istituto Marangoni S.r.l. im Jahre 2014 die eigene Marke gleichen Namens im Jahre 2016 geschaffen hatte, im Palazzo Bagatti Valsecchi mit einer Kollektion im Rahmen der Mailänder Modewoche. Ihre Entwürfe sah sie als Brücke zwischen Südamerika und Europa, so daß es galt, kolumbianische Kreativität mit italienischer Fassade zu versehen. Sie verknüpfte südamerikanische Kultur, zeitgenössische Kunst und Architektur zu mühelosen Silhouetten, reinen, klaren und schnörkellosen Formen, maskulinen Schnitten sowie femininen Details. Laura Aparicio bezog die Inspiration aus alten Familienschätzen und aus historischen Erinnerungen. Die Kollektion beinhaltete daraufhin asymmetrische Kleider samt Kordelzuge und mit kontrastierenden Einsätzen, voluminöse Minikleider, fließende Maxikleider, Schürzenkleider, kirschrote Mantelkleider, Röcke in A‑Linie, ausgestellte Cabanjacken und elegante Jumpsuits. Tweed und Wolle in Fürst‑von‑Wales-Musterung waren die verwandten Herrenstoffe. Lebhafter dreidimensionaler Laminat, fließende Seide und gemütliche Kaschmirwolle waren weitere Stoffe. Als Graphik erschien ein alter Frosch oder eine Ähre als Symbol des Kreislaufes, der Wiedergeburt und des Überganges des Geistes von der Dunkelheit ins Licht. Karos tauchten in ungewöhnlichen Farben auf. Überhaupt spiegelte die Farbpalette die kolumbianische Flagge wider; Gelb, Chinesischblau und Kirschrot in verschiedenen Schattierungen wurden von schwarzen und weißen Metallblitzen aufgeweicht. Die Explosion der magischen Farben Südamerikas zeugte von der Vitalität und Leidenschaft der Kolumbianer. Volkstümliche Regenbogenbänder, Teil präkolumbianischer Kunst, fungierten als graphische Details an einfarbigen Kleidungsstücken. Minimalistische Bändchenschals ergänzten die Kleidungsstücke. Modeschmuck aus Edelmetallen und Halbedelsteinen sowie mit dem allgegenwärtigen Kordelzuge ausgestattete, beutelartige Handtaschen aus den Kleiderstoffen vervollständigten die Kollektion.

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