MODE UND KULTUR

Metropolis

Die Mode und das Matriarchat

In Linie – die Mannequins Polina Zavialova, Alina Pavlushova, Roza Franjic und Ofri Sivor vor der Modenschau „MARYLING“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 2. Mai 2019
Eine Reise ins Herz einer Metropole, die einen „Flickenteppich aus urbanen Empfindungen und Gefühlen“ bewirkte, lag bei der in Mailand beheimateten Marke „MARYLING“ der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2019/2020 zugrunde. Unter dem Motto „METROPOLIS WINTER RAINBOW“ gaben die Kleidungsstücke die dystopische Stimmung im Spielfilme „METROPOLİS“ des deutsch-amerikanischen Filmregisseurs und Drehbuchautors Friedrich Christian Anton Lang alias Fritz Lang aus dem Jahre 1927 wieder. Der in etlichen Meisterwerken der bildenden Kunst Gestalt gewordene farbenfrohe Berliner Expressionismus war anhand der Stilelemente wie Intarsien, komplexen Muster, signaturhaften Texturen, Farben mit „intrinsischer“ Kraft, Formen sowie Silhouetten aufgrund der Reinheit der Schnitte und Linien spürbar. Der expressionistische Schwung machte die Kollektion zur Avantgarde, denn Kunst kam in die Mode und die Mode wurde Kunst. Am 20. Februar 2019 präsentierte der verantwortliche Modeschöpfer Avshalom Gur die Kollektion in einem Zelte im Hofe der Militärschule Teulié.

Ausgangspunkt der Kollektion der Marke „ALBAGÍA“ waren die unverwechselbare Art italienischer Schneiderkunst und das Bild zum Musikalbum „NIGHTCLUBBING“ der jamaikanischen Sängerin und Schauspielerin Grace Beverly Jones alias Grace Jones, welches der französische Graphiker, Illustrator, Photograph und Werbefilmregisseur Jean Paul Goude im Jahre 1981 gemacht hatte. Lange Abendkleider, die dank verführerischer Schnittführung einen Blick auf die nackte Haut ermöglichten, waren der Kern der in der Bar „TERRAZZA DUOMO 21“ gezeigten Kollektion. Asymmetrische Kleider in Minilänge, senkrecht ausgerichtete Hosenanzüge, zweireihige Jacken und geometrische Mäntel samt faltbarem, breitem Revers definierten einen „neuen italienischen Stil“: weiblich, sinnlich und kraftvoll. In Betracht dafür kamen neben Wolle Seidenduchesse und Seidenradzimir, die beide von der Clerici Tessuto & C. SpA stammten. Über den markentypischen Schwarz-Weiß-Kontrast hinaus umfaßte die Farbpalette Kakaobraun, Malvenrot, Rosa, Buttergelb, Olivgrün und Tintenblau. Hinter der zwischen Couture und Prêt‑à‑porter-Bekleidung angesiedelten Marke stand die Geschäftsfrau Angela Stanzione aus Lissone nahe Monza, welche die Gestaltung den Modeschöpfern Stefano Citron und Federico Piaggi anvertraut hatte.

Ein Weiberregiment kennzeichnet das Mailänder Modehaus „CURIEL“, welches die Modeschöpferin Gigliola Curiel sen. im Jahre 1947 gegründet hatte. Ihrer Tochter Raffaella Curiel alias Lella standen nunmehr ihre Nichte Gigliola Curiel jun. alias Gil und ihre Enkelin Ortensia Curiel zur Seite. Die fünfundzwanzig Trachten der im eigenen Atelier vorgestellten Couturekollektion waren eine Verbeugung vor der Geschichte einer „matriarchalischen Familie“. Ein Vergleich der zu Hause gefundenen Modeskizzen der Gründerin mit dem umfangreichen Archivbestande brachte als Rekonstruktion das Kleid „TAGLIATELLE“ hervor. Ein Abendkleid aus schwarzem Cady im Stile der 1960er Jahre wies an der Rückseite, genau gesagt in Höhe der Krümmung der verzerrten Kante, einundzwanzig kleine, bis zu den Füßen reichende, vernähte und umgeschlagene Stoffstreifen auf. In Anlehnung an den im Jahre 1950 im Palazzo Grassi gezeigten zweiteiligen Anzug gab es ein elegantes Abendkleid und einen Mantel aus Wolle und morgenrotem Seidenjacquard; am Mantel ergaben die fünf mit Rosen besetzten Stoffbahnen eine Kruste, die wie ein Übermantel wirkte. Einhundert Meter Chiffons waren nötig für das kurze Kleid „MILLE FEUILLE“ mit einer eingearbeiteten winzigen Glasperlenkette; Hochrot, Fuchsienrot, Rosa, Freesiengelb, Türkis, Blau und Purpur waren dessen Farbtöne.

Zehn schirmförmige Falten gaben dem Kleide „REDINGOTE“ aus roter Faille einen königlichen und tänzerischen Charakter. Ein Schlupfkleid aus rotem Organzajacquard hatte für ein Farbenspiel grüne Falten. Achtzehn Meter kaum wahrnehmbaren, schräg geschnittenen und verdoppelten Seidenvoiles war der Stoff eines drapierten Rockes in asymmetrischer Calla-Lilien-Form, welcher das lange Kleid „SMERALDO“ aus Chiffon zum Inbegriffe der Asymmetrie und Überlagerung machte. Beim drapierten Kleide „GIGIOLA“ handelte es sich um siebenundvierzig Meter rot-rosa Chiffons. Aufgestickte geprägte Blätter zierten die drapierte Faltenrobe „GIALLO RANUCOLO“ aus Seidenmikado. Zum klassischen Etuikleide „CURIELLINO“ mit plissiertem Wickel paßte eine Steppjacke mit verblaßten Stickdetails. Eine blaue Wickelhose und eine ausgestellte Jacke aus farblich darauf abgestimmtem Seidenorganza bildeten ein Ensemble. Der amerikanische Dichter und Schriftsteller Henry Charles Bukowski, Jr., hatte einst geäußert: „Die Zukunft ist ein zu schreibendes Buch, die Vergangenheit ist ein bereits geschriebenes Buch, die Gegenwart liegt in dieser verfluchten leeren und noch zu füllenden Seite.“ Dies war der Ansporn der Familie Curiel, mit ihrer Erzählung eine weitere Seite im Buche der Modegeschichte zu füllen.

Erst im Jahre 2015 hatte die im Jahre 1992 in Tolmezzo in Friaul geborene Modeschöpferin Martina Cella – mit einer Ausbildung an einer auf Bekleidungsgestaltung spezialisierten Kunstschule in Udine und an der Modeschule der Istituto Marangoni S.r.l. in Mailand – eine namensgleiche Marke in Mailand geschaffen. Die Couturekollektion, die nach Rom im Palazzo dei Giureconsulti beziehungsweise Palazzo Affari ai Giureconsulti in Mailand zu sehen war, beruhte auf den eigenen Erlebnissen während einer Reise nach Rumänien, auf der Erinnerung an die alten Skijacken ihres Vaters und auf den Ideen ihres polnischen Schneiders. Unter dem Motto „SURV‑LIVE“ erschien sie wie das sprichwörtliche Licht am Ende des Tunnels. Ländliche Tradition und städtische Strenge prallten aufeinander, so wie sich zwei Weiber zugleich haßten und liebten. Für die Stadt standen Hosen und breitschultrige Jacken. Anzüge waren bis auf bunte maskuline Stoffdrucke einfarbig. Die besondere Zusammenstellung der Tier- und Blumenmotive verschaffte den Drucken einen klaren geometrischen Kontrast, welcher die Silhouette in zwei Teile zerbrach. Röcke in Midilänge standen drapierten Kleidern gegenüber. Wickel auf Taillenhöhe und geraffte Ärmel traten hinzu. Überlappung von Tuchen, Stückwerk und geometrische Stickerei stellten hingegen das ländliche Volkstum dar. An überarbeiteten, das heißt „aufgemöbelten“, traditionellen Anzügen markierten schmale Bänder die Taille. Verstrickte Wolle bildete Muster aus. Kunstpelz kam auch vor. Minutiös dekorierte Foulards mit Fransen umrahmten die Gesichter. Davon abgesehen, hatten einteilige Schneeanzüge einen Knoten auf Taillenhöhe. Stickerei und farbige Steppnähte verschönerten Thermo-Skihemden aus Wolljersey. Übersteppte Gürtel mäßigten die übergroßen Volumen. Ärmel hingen herunter. Leggings waren hauteng. Materialien waren noch hochglanzbeschichteter Jersey, gestepptes und gepolstertes Nylon sowie bedruckter Flausch. Anders als Schwarz und Weiß waren Violett, Blau, Krickentengrün, Grasgrün, Flamingorosa und fluoreszierendes Rot lebhafte Farbtöne, welche die Sportwelt der 1990er Jahre zurückholten.

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