MODE UND KULTUR

Am stillen Don

Die Mode und der Äther

Griff ins Haar – das Mannequin Rossana Latallada vor der Modenschau „AZZARO COUTURE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 4. Februar 2019
Das zwanzigste Jahrhundert war für Russen eine Zeit tiefgreifender politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umbrüche gewesen. Besonders die Zeit vom Ersten Weltkriege über die Revolutionen bis zum Bürgerkriege hatte einen Wendepunkt in der russischen Geschichte bedeutet. Die Tragödie der Zerstörung der uralten Lebensweise vor allem der Donkosaken war –  es war um Glück und Leid, Hindernisse und Erfolge gegangen – das Thema eines der bedeutsamsten Werke der sowjetrussischen Literatur, nämlich des Romanes „Der stille Don“ als Hauptwerkes des Schriftstellers Michail Alexandrowitsch Scholochow aus dem Jahre 1928, gewesen. Romanvorlage und Verfilmung seitens des sowjetrussischen Filmregisseurs und Drehbuchautors Sergei Apollinarijewitsch Gerassimow im Jahre 1957, insbesondere die Persönlichkeit der weiblichen Hauptfiguren, namentlich der leidenschaftlichen und lebhaften Aksinja sowie der ruhigen und sanften Natalja, beeindruckten die Moskauer Modeschöpferin Ulyana Sergeenko sehr.

Da es für Ulyana Sergeenko vornehmlich eine Geschichte über die Macht der Frauen war, griff sie die Idee der Brüderlichkeit auf mit der Folge, daß sie in allen Frauen nicht nur eine Zauberin, sondern auch eine Angehörige einer „großen Schwesternschaft mit unglaublicher Kraft“ sah. Zur Präsentation der Couturekollektion für den Frühling und Sommer 2019 am 21. Januar 2019 ergänzte die Vorführung des eigens von der deutschen Photographin Ellen von Unwerth gedrehten kurzen Modefilmes „Sisterhood“ mit den russischen Schauspielerinnen Swetlana Viktorowna Chodtschenkowa und Renata Muratowna Litwinowa die Vorführung durch Mannequins auf der Bühne des Pariser Theaters „THÉÂTRE MARIGNY“. Die Kollektion wies viele Bezüge zum volkstümlichen Kosakenkostüme auf, was an weiten weißen Hemden mit Handstickerei und Stricke, Stufenröcken aus Tafte, Kleidern mit Falten in Form von Taillenschals, durchbrochenen Schürzen, groben Stiefeln und Ledertaschen zu erkennen war. In der Kollektion drehte sich alles um die Details. Ein besonderes Augenmerk galt der Ornamentik.

Als Repräsentanten der Don-Heide gesellten sich Halme mitsamt Blättern des Rainfarnes, Baldrianblüten, Blütenblätter der Schafgarbe, Holunderzweige und Weizenähren zur Rose als Ulyana Sergeenkos Lieblingsblume. Mit Seide und Tafte bestickte Blumen bildeten Feldblumensträuße für die Ärmel von Blusen aus Spitze sowie die Säume von Kleidern und Capes aus Seide. Ganze Hähne, Hähnchenschenkel, Ziegen und Kreuze sowie des Modehauses Monogramm „УС“ waren in Holzstücke geschnitzt worden, um damit die Stoffe mit Spezialfarbe zu stempeln. An Röcken und Korsetts und sogar an Säumen erschienen Hähne, Gänse und Ziegen als Applikation auf Spitze. Die Krestezki-Stickerei, eine einzigartige Handarbeitstechnik im Rahmen russischer Volkskunst, war im Jahre 1860 entstanden, als im Gouvernement Nowgorod erstmals eine Bäuerin aus durchtränkten Wasserflachsfasern weißes Garn für Tischdecken, Handtücher und Volants hergestellt sowie dann durchs Beschneiden und Ziehen und darauffolgende Verweben diagonaler Fäden mit der Hand klare geometrische Muster auf dem Naturstoffe erzeugt hatte. Den Krestezki-Stichlinien waren in der Kollektion eine Schürze mit durchbrochener Stickbordüre, eine schwarze Bluse, wo ein roter Faden in der Stoffstruktur verstrickt war, eine weiße Bluse, wo sich der gestickte Buchstabe „У“ als Ornament wiederholte, und eine mit „Vintage“-Spitze bestickte Bluse aus Baumwolljacquard, worauf sich dieses Ornament auch befand, zu verdanken.

Bei Schürzen und Pelerinen wertete Stickerei mit Kunstperlen das Gestrick auf, während die Don-Landschaften und das Dorfleben die handgefertigte Yelets-Spitze thematisch prägten. Über handbesticktes Büffelleder an Kleidern hinaus kam Stickerei als Seidenborte oder mit Kristallen und Kunstperlen vor. Im ganzen Stücke (Dip‑Dye‑Verfahren) bemalte Seidenfransen, die farblich zur Stickerei paßten, hingen an den Rändern von Capes und Taillenschals. Die Pelze gingen aus einer Zusammenarbeit mit dem finnischen Pelzatelier „sagafurs“ hervor. Pelzärmel in Gestalt geschnitzter Diamanten hingen an einem Mantel aus Kaschmirwolle. Ein grauer, mit Pailletten bestickter Kaschmirmantel hatte asymmetrische Pelzeinsätze. Taftrosen zierten einen Mantel aus Ziegenfelle. Taftrüschen ließen strenge Woll- und Pelzmäntel milder aussehen. Karakulfell, Fuchsfell, Polarfuchsfell und Nerzfell waren weitere Pelzgrundlagen. Samt, schottische Baumwolle in Madrasmusterung und Jersey waren in der Kollektion ebenfalls vorhanden.

Erstmals bereicherten Dessous aus dem seit dem Jahre 1880 bestehenden und für die Erfindung des allerersten Büstenhalters unter der Bezeichnung „le bien‑être“ im Jahre 1889 berühmten Pariser Lingeriehause „CADOLLE“ eine Kollektion der Modeschöpferin Ulyana Sergeenko. Neben Spitzenhöschen und Bodysuits handelte es sich um Büstenhalter und Bustiers aus weißer, schwarzer oder beige Spitze samt Haken und Seidensatinbändern. Die Farbpalette umfaßte noch Grau, Blau, Smaragdgrün, Senfgelb, Staubrosa, Korallenrot, Rubinrot, Burgunderrot und Ocker. Breite Ledergürtel, mal braun, mal schwarz, ergänzten Woll- und Pelzmäntel sowie Röcke mit hoher Taillenpartie; dieser Härte wirkten kontrastierende florale Stoffdrucke entgegen. Aufgestempelte Blumen und Zweige tauchten an Hüftgürteln und Handtaschen wieder auf. An Gürteln hingen kleine Beutel mit Schnürung zur Aufbewahrung von Tabak und Geschoßpatronen; solche Beutel hatten früher zur Ausrüstung von Männern gehört. Andere Beutel, und zwar zur Aufbewahrung handbestickter Handschuhe aus feinmaschigem Gewebe, bestanden aus cognacbraunem oder schwarzem Leder; deren Zierperforation zeigte die Motive des Handstopfens wie Heideblumen, Blütenblätter und Initialen des Besitzers.

Die Kopfbedeckungen gingen aus einer Zusammenarbeit mit dem britischen Hutmodeschöpfer Stephen Jones hervor. Auch mit deren Gestalt wurde ein Bezug zu den Heldinnen des Spielfilmes „Der stille Don“ hergestellt, und zwar zu den auf den Feldern arbeitenden Bäuerinnen, die ihre Gesichter dadurch bedeckt hatten, daß sie ihre Köpfe mit Schals eingewickelt hatten. So ermöglichten Balaklavamützen aus bestickter Spitze, das Gesicht unter einer netzartigen Maske zu verstecken. Um sicherzustellen, daß die Heldin der Kollektion sicher auf jedem Wege laufen werde, hatten lederne Kosakenstiefel eine versteckte Sohle. Daneben gab es Schnürstiefel samt hohem Absatze aus schwarzem Leder und braunem Wildleder. Die traditionelle Dekorationsanordnung „namisto“ – mehrreihige Halsketten mit Kreuzen, Korallen und Perlen – war die Vorlage mehrschichtiger goldener Halsketten. Mond, Kreuze und Matrjoschkas en miniature bestimmten das Dessin goldener Ohrringe, welche üblicherweise von den Frauen der Donkosaken getragen worden waren. Alles in allem veränderte Ulyana Sergeenko das Bild der Heldin; nunmehr stand sie als Kriegerin fest auf ihren Füßen in sicheren Stiefeln, hielt sich in Korsetts selbstbewußt zurück und schaute unter einer Maske vorwärts hervor.

Im Hinblicke auf Ulyana Sergeenko ging es beim Modeschöpfer Dany Atrache aus Beirut in der Schule der Medizin der Pariser Universität René Descartes vergleichsweise puristisch zu. Nach seiner Ansicht bedurfte es, um aufzufallen, keiner besonderen Ornamente. Vielmehr reichte ein Spiel mit Seide oder Seidenorganza in weißen, schwarzen und silbernen Farbblöcken, mit Drucken und Blumenstickereien in Pastelltönen bis hin zu Mitternachtsblau zusätzlich versehen, aus. In einer Welt unerfüllter Träume war dies ideal für eine freie, beinahe wilde Frau bezaubernder Schönheit auf einem Spaziergange durch Paris wie durch einen geheimen Garten.

In der Couturewoche war das Hotel „InterContinental“ die Stätte mehrerer Modenschauen. Eingedenk seines Studiums am Königlichen Technologieinstitute Melbourne (RMIT) war für den australischen Modeschöpfer Alin Le’Kal die Stadt Melbourne als Heimat vierer Jahreszeiten an einem Tage und als Hauptstadt eines vielfältigen Schmelztiegels der richtige Ort gewesen, um sich auf eine Inspirationsreise zu begeben. Die von ihm geschätzte rohe Weiblichkeit spiegelte sich in den dekadenten Entwürfen der Kollektion „REFLECTIVE ELEMENTS“ wider. Die Kleider mit Kristallen und Engelsfedern in strahlendem Glanze, die am 22. Januar 2019 zu sehen waren, eigneten sich am besten für Bräute als seine treuen Kundinnen. Inspirationsquelle für die zyprische Modeschöpferin Maria Aristidou war hingegen die Stadt Nikosia. Das, was sich hinter verschlossenen Türen verbarg, war ihr ein Rätsel; menschliche Neugier sollte helfen, die Türen zu öffnen und die Phantasie auszuleben. In der am 21. Januar 2019 gezeigten Kollektion „SYMPLEXIS“ verbanden sich Gestrick und Handstickerei bei einer bunten Farbpalette.

Von jeher hatten Wissenschaftler Äther für dasjenige Medium gehalten, das den leeren Raum gefüllt hatte. Obschon der deutsch-amerikanische theoretische Physiker Albert Einstein im Jahre 1905 die Ätherhypothese verworfen hatte, hatte er im Jahre 1924 unter dem Titel „Über den Äther“ wiederum geschrieben: „Aber selbst wenn diese Möglichkeiten zu wirklichen Theorien heranreifen, werden wir des Äthers, d. h. des mit physikalischen Eigenschaften ausgestatteten Kontinuums, in der theoretischen Physik nicht entbehren können; denn die allgemeine Relativitätstheorie, an deren grundsätzlichen Gesichtspunkten die Physiker wohl stets festhalten werden, schließt eine unvermittelte Fernwirkung aus; jede Nahewirkungs-Theorie aber setzt kontinuierliche Felder voraus, also auch die Existenz eines ‚Äthers‘.“ Nichtsdestoweniger gilt die Idee eines Äthers heutzutage als wissenschaftlicher Irrtum. In der am gleichen Tage vorgestellten Kollektion „Obsession éthérique“ der georgisch-amerikanischen Modeschöpferin Patuna Bushyhead paßten sich die Kleider den Kurven des astralen weiblichen Körpers an, als ob sie die kostbare ätherische Hülle um einen physikalischen Körper gewesen wären.

Weitere Bilder