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Fünfundzwanzig Jahre

Neues von der Modemarke „VIKTOR&ROLF“

Vorm Kirchenfenster – das Mannequin Yulia Velikanova vor der Modenschau „ANTONIO ORTEGA COUTURE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 5. August 2018
Fünfundzwanzig Jahre sind eine lange Zeit. Von vergeudeter Zeit und von Strafe hatte das Lied „25 Years“ der britischen Band „The Catch“ im Jahre 1983 gehandelt. Anders als da gab es neulich in Paris etwas zu feiern. Die niederländischen Modeschöpfer Viktor Horsting und Rolf Snoeren blickten freudig auf fünfundzwanzig Jahre kreativen Schaffens zurück. Zum silbernen Jubiläum schufen sie eine Ode an die zurückliegende Zeit. Wenngleich sich eine Ansammlung von Erinnerungen ergab, war dies kein nostalgischer Rückblick, sondern ein Ausblick auf die Zukunft. Immer nach vorn zu schauen und die Grenzen der Transformation zu verschieben bildete zum Wertschätzen der Vergangenheit eine Antithese. Dieser Ansatz war typisch für das kreative Duo. Es ging ihm um die „Erneuerung der Gelübde“ gegenüber der Mode.

Zur Anzahl der Jahre passend, beinhaltete die Couturekollektion für den Herbst und Winter 2018/2019 fünfundzwanzig neu gestaltete Aufmachungen. Mit der aus gänzlich weißen Stücken bestehenden Kollektion „The Immaculate Collection“, die Viktor Horsting und Rolf Snoeren am 4. Juli 2018 in der Veranstaltungsstätte „LE TRIANON“ präsentierten, faßten sie die Höhepunkte der Vergangenheit zusammen. Die derart kuratierte Auswahl ikonischer Kleidungsstücke beruhte auf der aktuellen Ausstellung „VIKTOR&ROLF: FASHION ARTISTS 25 YEARS“ in der Kunsthalle Rotterdam. Für Thierry-Maxime Loriot, den Kurator der Ausstellung, war es mit Aufrichtigkeit und Authentizität ein einzigartiger Dialog zwischen Kunst und Mode, ohne Regeln oder Trends der Branche zu folgen. Es war das Konzept der tragbaren Kunst. Vorlage für eine in eine Schicht aus zerfallender Wolle gehüllte, voluminöse Ballrobe war ein graues und silbernes Kleid, das während des Modefestivals in Hyères im Jahre 1993 gezeigt worden war. Eine Tüllrobe, deren Rockteil sauber herausgearbeitete Öffnungen aufwies, erschien als Wiedergeburt eines rosa Stückes aus der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2010. Eine Smokingjacke samt riesiger, mehrlagiger Halskrause ging auf die Couturekollektion für den Herbst und Winter 1998/1999 zurück. Eine glitzernde Jacke aus neunen aufeinander folgenden Stoffschichten stand in Beziehung zur Couturekollektion „Russian Doll“ für den Herbst und Winter 1999/2000. Eine mit Akkordeonfalten versehene Jacke samt weitem Hemdkragen ließ an die Prêt‑à‑porter-Kollektion „One Woman Show“ für den Herbst und Winter 2013/2004 denken. Unter Einhaltung der charakteristischen Gestaltungsregeln des Modehauses frischten „SWAROVSKI“-Kristalle die Kleidungsstücke auf. Die maßgefertigten Schuhe stammten aus dem Hause „repetto PARIS“.

Raum und Zeit beschäftigen Wissenschaftler und Künstler von jeher. Durch die ganze Geschichte der Zivilisation hatte die Architektur den Menschen, die Zeit überbrückend und den Raum durchziehend, begleitet. Um seine Gedanken auszudrücken und sich selbst zu übertreffen, hatte der Mensch bedeutsame Bauwerke geschaffen. Die Schönheit der Strukturen und Konturen sowie der Strenge und Rationalität kennzeichnet solche Bauten noch heutzutage. Die Baukunst brachte der chinesischen Modeschöpferin Guo Pei Erleuchtung und Inspiration. Bekleidung war für sie ohnehin der erste Raum der Menschheit; Kleidungsstücke waren insofern sich bewegende Bauwerke. Die Architektur wurde sonach das Thema der neuen Kollektion. Der Präsentationsort der Kollektion „L’Architecture“ war konsequenterweise die Stätte der Architektur und des Kulturerbes in Paris. Ästhetische Regeln der Architektur übertrug Guo Pei auf die Form ganzer Kleidungsstücke und deren Details, wobei es ihr auf ein Gleichgewicht der menschlichen Silhouette ankam. Die ganze Welt der Gotik erfaßte die Kollektion. Spitzbogen und Strebewerk als hervorstechende Elemente des gotischen Stiles bestimmten die Silhouetten. Als Neuerung bezog Guo Pei das Gesims ein. Stickerei und Knotenknöpfe in klassischer orientalischer Technik standen der Gotik gegenüber. Das Kreuz aus der römischen Baukunst gelangte in dekorative Muster. Diamantrauten, Sterne und Dreiecke kamen hinzu. Für Buntglas bekannte florale Schnecken und Pflaumenblüten sorgten überdies für einen romantischen Akzent. Überlagerung war das Maß aller Dinge. Die Linien folgten aus den Kurven verschiedener Stofflagen. Zentrales Modell der Kollektion war der Reifrock in der Ausgestaltung als Verdugado. Guo Pei achtete auf die Wechselwirkung zwischen der Kleidung und dem Lichte. Musseline und Fasern der Ananasblätter hatten eine glänzenende und lichtdurchlässige Textur. Leinen, Federn, Metall und Acryl durchbrachen die Grenze zwischen Couture und Architektur. Schwarz entfaltete an den reichhaltigen Kleidungsstücken eine gewaltige Wirkung; dies galt für den schwarzen Seidensatin, die funkelnden oder flackernden schwarzen Kristalle sowie die handgemalten Umrisse von Baumschatten auf den Stoffen.

Die Filmkunst beschäftigte den Pariser Modeschöpfer Julien Fournié. Der britische Filmregisseur und Drehbuchautor Sir Alfred Joseph Hitchcock, der niederländische Filmregisseur und Drehbuchautor Paul Verhoeven wie auch die britische Schriftstellerin Dame Agatha Mary Clarissa Christie, Lady Mallowan, alias Agatha Christie waren für Julien Fournié die Meister des „Suspense“. Alfred Hitchcock hatte einst erklärt: „Spannung ist wie eine Frau. Je mehr der Vorstellung überlassen wird, desto mehr Aufregung.“ Julien Fournié übertrug diesen Gedanken auf die Bekleidungsmode. Sogleich sah er sich als modischer Serientäter. Doch welche ästhetischen Spuren mochte ein „Profiler“ bei ihm finden? Zu entdecken waren die skulpturalen Drapagen, versteckten Schnitte und skalpellweise angepaßten Büsten. Zudem waren die Ärmel mit darin vorhandenen Geheimnissen, Hüftgurte und Schößchen, die jede Bewegung begleiteten, zu untersuchen. Außerdem waren die schwindelerregenden Asymmetrien, die durch schräge Einlagen und Drapagen entstanden, festzustellen. Endlich war eine Scheide, die ein Schnitt an der Brustseite hervorgerufen hatte, zu erkennen. Julien Fourniés Lieblingswaffe blieb eben der Schnitt, der ein Kleidungsstück strukturierte. Stoffe wie Mohairwolle, Seide und Musselin strahlten Reinheit aus. Pekarileder stand für Größe, während Rentierleder für Adel stand. Solch edles Leder fand sich an Kleidern und Hosen wieder. Farbtöne wie Rubinrot, Rehbraun und Entenblau sorgten für Impulse. Das schwarze, gefiederte Kleid aus Jacquardstoffe wies eine Stickerei aus mattem Garne mit etlichen Pailletten auf, wobei ein Schleier deren funkelnden Schein verdunkelte. Ein Panthermotiv zierte als Druck das Leder bei Kleidern, Handschuhen, T‑Riemchen-Schuhen und Handtaschen. Dreiunddreißig elegante und strenge Modelle bildeten die am 3. Juli 2018 in der Kirche Oratoire du Louvre gezeigte Kollektion „Premier Crime“.

Ein Kaleidoskop von Epochen der russischen Geschichte war die Kollektion der Moskauer Modeschöpferin Yulia Yanina. Das alte und bescheidene bäuerliche Rußland, das Reich der allrussischen Kaiser und Selbstherrscher – man denke an Peter I., den Großen, und Katharina II., die Große – sowie das Land der Revolutionäre und Komsomolzen wurden gegenwärtig, was den Wunsch nach Verkleidung weckte. Den Schwerpunkt der Kollektion bildeten Schneiderkostüme und Kleider, wobei die taillierten Kleider einen vollen Rock hatten. Wolle, Samt, Taft und Leder waren vornehmlich deren Materialien. Demgegenüber waren Nerz-, Zobel- und Kunstfell die Materialien für Jacken und Mäntel. Das herkömmlicherweise für Bauernkleidung verwandte Schaffell erhielt durch Stickerei ein höheres Niveau. Handgestickte traditionelle russische Muster, einfache Bauernmuster, skulpturale und voluminöse barocke Muster, bloßes Stückwerk sowie Lederspitze kamen vor. Mit den Abendroben kehrte der Glanz funkelnder Gold- und Silberkleider der Zaren zurück. Schwarz, Grau, Weinrot und Smaragdgrün hatten die farbliche Vorherrschaft. Besondere Aufmerksamkeit galt den Kopfbedeckungen und Accessoires. Russische Pelzmützen, mädchenhafte Kopftücher aus Nerzfelle und handgestrickte Hauben in der Art einer Kokoschnikhaube trafen für ein luxuriöses Aussehen auf Samtstrümpfe und majestätische Schnallen an den Schuhen. Der Winter war eben Yulia Yaninas Lieblingsjahreszeit. Sie verstand es im Hotel „WESTIN PARIS“ aufs neue, russische Tradition und französischen Chic zu vereinen.

Im Jugendstile waren die Frau und ihr Bild allgegenwärtig gewesen. Der aus Morelia in Mexiko stammende und in Montréal tätige Modeschöpfer Antonio Ortega erspürte den Geist des Jugendstiles in den eklektischen und avantgardistischen Großstädten Amerikas und Europas. In seiner Vorstellung bestand eine Stadt nicht bloß aus architektonischen Schöpfungen mit geraden oder gebogenen Linien. Die urbane Landschaft, weit davon entfernt, kalt und unpersönlich zu sein, umfaßte auch menschliche Gesichter und den Atem des Lebens. Freiheit und Vielfalt waren für Antonio Ortega maßgeblich. Extreme Kontraste, für ihn charakteristisch, waren in der Kollektion, die er am 4. Juli 2018 in der Amerikanischen Kathedrale von Paris zeigte, wiederzufinden. Moderne Silhouetten schienen aus Seide, Tülle oder kilometerlangem Baste „geschnitzt“ zu sein. Lurex floß wie flüssiges Metall. Auch traditionelle Stoffe wie einfache Wolle und Kaschmirwolle hatten eine ungewöhnliche Rolle. In Anspielung auf ein von Stahl- und Glastürmen geprägtes Stadtbild umfaßte roher Zement die Reflexion eines Spiegels. Ein strenges, von einem geradlinigen Gebäude inspiriertes Kleidungsstück hob sich ab vom „kurvigen Wahnsinne“, der an das Werk des spanischen beziehungsweise katalanischen Architekten Antoni Gaudí i Cornet denken ließ. Die verschiedenen Stoffe überlagerten sich zu einem modernen und weltoffenen hybriden Kleidungsstücke. Grelles Gelb und kräftiges Fuchsienrot waren weitere Zutaten der modischen Stadtgestaltung.

Der ewig schönen Natur wandte sich die Pariser Modeschöpferin Armine Ohanyan zu. Die Kollektion „ÉLÉMENTS“ bezog sich auf die natürlichen Elemente wie Wind, Regen, Eis, Tau und Wurzeln in all ihren Formen. Jede Form der völlig in Frankreich handgefertigten Kleidungsstücke repräsentierte eines dieser Elemente und zeigte zugleich eine Klimaentwicklung auf. Zur Darstellung des Entwicklungszyklus hatte Armine Ohanyan neue Technologien wie den dreidimensionalen Druck verwandt. Die futuristische Kollektion stellte Armine Ohanyan am 3. Juli 2018 in der Veranstaltungsstätte „LA MAISON DES CENTRALIENS“ vor.

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