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Fin de siècle

Die Mode und der Kulturverfall

Alles im grünen Bereiche – das Mannequin Samanta Kriptavičiūtė vor der Modenschau „GEORGES CHΛKRΛ Couture“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 4. August 2018
Das Phänomen, wo Aufbruchsstimmung, Zukunftseuphorie, Zukunftsangst, Endzeitstimmung, Weltschmerz, Faszination von Tode und Vergänglichkeit, Zurückfallen in Kindlichkeit, Lebensüberdruß, Leichtlebigkeit, Frivolität sowie Dekadenz zusammenkommen, hat einen Namen: Fin de siècle. Der kulturelle Verfall war in der Zeit vor dem Ersten Weltkriege das Hauptthema gewesen, was Kultfiguren wie Bohemien, Dandy, Snob und Femme fatale hatte hervorstechen lassen. Der Beiruter Modeschöpfer Georges Chakra griff nunmehr die Verunsicherung dieser Zeit, der Belle Époque, auf.

Für Georges Chakra war die moderne Frau geheimnisvoll und exzentrisch. Insofern verband er deren Entschlossenheit mit der Opulenz besagter Epoche. In der Couturekollektion für den Herbst und Winter 2018/2019, die er am 3. Juli 2018 im Palais de Tokyo in Paris präsentierte, dominierten Schwarz mit Silberblitzen, Scharlachrot, Schockrosa und flammendes Orange. Plissierter Tüll, ausgeschnittener Chiffon und Gaze-Blütenblätter leuchteten auf einem Kleide, einer Jacke oder einem Rocke oder gar an einem Kragen. Spitzenlamé, schimmernder Samt, Gagatperlen, Kristalle und Pailletten flimmerten. Samtbänder kreuzten den Körper für einen graphischen Effekt. Allgegenwärtiger Tüll funkelte dank glitzernder Pailletten besonders am Brautkleide in einer Balance zwischen Zerbrechlichkeit und Stärke. Strukturierte Volumen, korsettierte Torsos und festgelegte Taillen führten überall zu einer aristokratischen Silhouette.

Den vier Jahreszeiten widmete sich der französische Modeschöpfer Patrick Pham. Die Kindheit in Vietnam spiegelte sich in den Farben der in der Veranstaltungsstätte „LA MAISON DES CENTRALIENS“ gezeigten Kollektion „4 saisons“ wider. Das Blau des Himmels in sommerlicher Dämmerung, das Grün der Reisfelder, das zarte Rosa der Lotusblüten und das kräftige Rot des Chillis kamen vor. Patrick Pham liebte es, die natürliche Energie einer Frau beim Abenteuer und bei der Liebe zu entdecken. Hosenanzüge und Perlenkleider waren ideal für eine Kreuzfahrt durchs Chinesische Meer. Seide, Samt, Kaschmirwolle, Tüll und Spitze waren die stoffliche Grundlage für den Perlenbesatz. Schwarz beherrschte Roben für festliche Abende und Nächte, welche die Haut der frechen, aber verzaubernden Trägerin streichelten. Handgemachte, hauchdünne Stickereien zierten andere Kleider. Leicht skulpturale Kleidungsstücke gab es ebenfalls. Überhaupt ging es Patrick Pham bei allen Kleidungsstücken um Bewegungsfreiheit.

In der Kollektion der niederländisch-vietnamesischen Modeschöpferin Xuan‑Thu Nguyen mit Sitze in Paris ging es darum, was enthüllt und was lieber versteckt werden sollte. In einer Welt immer neuer „High Tech“‑Materialien schienen alle den Wert edler Materialien zu übersehen. Xuan‑Thu Nguyen sah die Welt wie durch eine Photokamera. Die Aufregung des Entdeckens begleitete sie. Sie erkundete neue Wege der Verwendung altmodischer Materialien. Das Ergebnis waren Puffjacken, deren Anschwellung auf geklopften Blumen beruhte. Mit einem Augenzwinkern dienten Stickereien durch Laserschnitte mit der Hand und dreidimensionale digitale Blumendrucke mit der Hand zur Verschönerung. Die ganze Kollektion war in der Kapelle des Lyzeums Jacques Decour zu sehen.

In der Amerikanischen Kathedrale von Paris zeigte der aus China stammende und in Paris tätige Modeschöpfer Liu Chao die Kollektion „THE PALACE OF WONDERS“. Inspirationsquelle war die Mongolei mit ihren Riten, ihrer Kultur und ihrer Philosophie. Die Harmonie zwischen dem Menschen und der Natur, der Respekt und die Höflichkeit unter allen Menschen sowie der Glaube an Gott waren Liu Chao wichtig. Er rückte das traditionelle Handwerk in China und Frankreich ins Rampenlicht, indem er Teeseide (Xiang Yun Sha), Bilder aus der Zehnbambushalle (Shizhuzhai), Guangzhou-Stickerei, Stickerei aus dem Hause „LESAGE“, Seidenblumen aus dem Hause „Ets Legeron PARIS“, Falten aus dem Hause „Atelier Gérard Lognon“ sowie Tüll und Spitze aus dem Hause „Sophie Hallette Maison de tulle et dentelle“ zusammenbrachte, um der Kollektion einen edlen und heiligen Charakter zu geben. Das traditionelle mongolische Kostüm paßte Liu Chao dem westlichen Wunsche nach einer von Modernität durchdrungenen Sinnlichkeit an. Tüll mischte sich mit Leder, Fransen drehten sich auf der Stickerei und Federn flogen frei. Zwischen den Statuen tanzten Blumen, Schmetterlinge und Vögel. Für Liu Chao strebten die Götter nach einer besseren Zukunft, wo Männer spielen und Frauen das Leben feiern würden.

Neben der Couture durfte die Jouaillerie nicht vernachlässigt werden. Die Marke „BAROQCO“ leitete sich namentlich aus dem Barocke, einer Stilepoche des Wandels von der Einfachheit zu lebhaften und überschwänglichen Details, her. Für die verantwortlichen Modeschöpfer Imelda Liem und Eduardo Liem bedeutete Barock eine einzigartige Größe und ein Gefühl der Ehrfurcht. Als „Weltbürger“ mit niederländischen, portugiesischen, chinesischen und indonesischen Wurzeln machten sie diese Vielfalt zur Grundlage ihrer Kreationen. Auf eine Tiara oder Hochzeitskrone folgten Halsketten und Ohrringe. Unter dem Motto „TO BE UNIQUE YOU HAVE TO BE DIFFERENT“ wandten sie sich dem niederländischen Maler Vincent van Gogh und dem französischen Maler Pierre-Auguste Renoir zu. Dem barocken Thema fügten sie eine impressionistische Note hinzu. Eine Palette verschiedener Farben erweckte den Schmuck zum Leben. Die Winterkollektion war klassisch, steif und stark, wohingegen die Sommerkollektion lebendig war. Gold, Opal und „SWAROVSKI“-Kristalle waren die Materialien. Alle Metallstücke waren frei von Nickel. Der Schmuck war überdies umweltfreundlich dank der Verwendung untoxischer Mittel bei der Beschichtung. Die Veranstaltungsstätte „LA MAISON DES CENTRALIENS“ war der Ort der Präsentation sowohl dieser als auch einer anderen Schmuckkollektion.

Die französische Modeschöpferin Ariane Chaumeil befaßte sich mit dem Wesen des Spiegels. Magie und Mysterium umgaben ihn; in der Literatur und im Glauben war er das Symbol einer Tür zu einer anderen Welt. Die wahrgenommene Reflexion war nicht die Wirklichkeit, sondern nur ihr getreues oder verzerrtes Abbild, was allerlei Phantasien ermöglichte. Mit Lichte oder Schatten legte ein Spiegel die Seele, hell oder dunkel, frei. So kam die Kollektion der Marke „ABE BY ARIANE CHAUMEIL“ für den Herbst und Winter 2018/2019 zu der Devise „MIROIR DE L’ÂME, DE L’OMBRE À LA LUMIÈRE (LE CLAIR OBSCUR)“. Ein weiteres Herstellungsverfahren war hier bedeutsam. Zum Glasblasen vor der Lampe war das Arbeiten mit Metallpaste hinzugetreten. Metallpaste, geformt und gegossen, war modelliert, geschliffen, bei hoher Temperatur gebrannt, mit einem Poliermittel gebürstet und gerieben sowie mehrmals poliert worden, um Stücke goldener und weißer Bronze sowie reinen Kupfers mit einer antik glänzenden Oberfläche zu erhalten.

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