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Hedonistische Amazonen

Die Mode und die Exotik

Kuschelig – zwei Mannequins vor der Modenschau „EVA MINGE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 1. August 2018
So sehr einen der Inhalt sowie die Art und Weise der Präsentationen in der Pariser Couturewoche faszinieren, so sehr verärgert einen deren Terminierung. Neuerdings häuften sich die Fälle von Terminkollisionen. Es war nicht zu verstehen, wieso beispielsweise am 1. Juli 2018 um 14.30 Uhr die Marken „ANDI.KP™“ und „EVA MINGE“ gegeneinander antraten, obwohl am Vormittage genug freie Zeit vorhanden war. Am 2. Juli 2018 konkurrierten zwischen 15.30 Uhr und 17.00 Uhr sechs Marken um die Gunst der Presse und der Kunden: „AZULANT AKORA“, „MAISON RABIH KAYROUZ“, „Romance Was Born“, „GYUNEL“, „NIHILO“ und „RALPH & RUSSO“. Am 3. Juli 2018 betraf es zwischen 14.30 Uhr und 16.30 Uhr sogar acht Marken: „STEPHANE ROLLAND“, „Celia Kritharioti“, „MARIA ARISTIDOU“, „YANINA COUTURE“, „JULIEN FOURNIĒ“, „GEORGES CHΛKRΛ Couture“, „LIU CHAO“ und „ULYANA SERGEENKO“. Dieses Chaos war gewiß nicht im wirklichen Interesse der Modeschöpfer mit ihren Kreationen.

Kontraste bei Materialien, Texturen, Formen und Volumen mochte der für die Pariser Modemarke „AZZARO COUTURE“ wirkende Modeschöpfer Maxime Simoëns von jeher. Dies war der Leitfaden der Couturekollektion für den Herbst und Winter 2018/2019, wo weiblicher Glamour und androgyne Eleganz, Modernität und Zeitlosigkeit, Schlichtheit und Luxus aufeinander trafen. Falten, Stickereien, Ketten, Transparenzen und Lurex als Klassiker der Marke mischten sich mit matten Pythonhäuten, bunten Palmdrucken und funkelnden Ikatmustern. Prachtvoll erschienen lange Abendkleider aus transparentem Musselin und Pyjamas aus Seidensatin. Minikleider wiesen eine Stickerei mit geschliffenen Spiegeln in bengalischer Art auf. Bei einer Kombination war Neopren das Material für Sweatshirts, während lila Pythonhaut und Musselin das Material für Faltenröcke waren. Kristalle bedeckten in Gänze den Lavallièrekragen von Blusen. Die Kleider waren eine Hommage an das goldene Zeitalter Hollywoods, und zwar in einer reinen, sinnlichen und flammenden Exotik neu interpretiert. In Anspielung auf Marilyn Monroe gab es ein mit Ikatstickerei bedecktes Kleid aus transparenter Musselinseide in burmesischer Version. Der mit Sonnenfalten überarbeitete Lurex hatte eine Degradémusterung, deren Färbung von Blau nach Fuchsienrot oder von Purpurrot nach Goldbraun verlief.

Gürtel aus Gold- oder Silbermetalle führten zu einer draufgängerischen Haltung. Es ergab sich eine schicke und raffinierte Silhouette für die Leichtigkeit und Ungezwungenheit des Alltages. Zu flachen Sandalen getragen, eigneten sich solche Kleider für den Tag und für die Nacht. Für eine jungenhafte Attitüde – Stichwort „Tomboy“ – mischte Maxime Simoëns wesentliche Elemente der Herrenbekleidung unter die weiblichen Kleidungsstücke. Die Verflechtung der verschiedenen Bekleidungsregeln sollte ein freies und ikonoklastisches Auftreten erleichtern. Ein karierter, mit Strass-Steinen bestickter Blazer gehörte zu einer grau-blauen Jeanshose aus Pythonhaut. Ein Damenkostüm aus palmenartigem Jacquardstoffe wurde, wenn es gegürtet wurde, in Maxime Simoëns’ Sinne eine Waffe der Verführung in der Hand einer hedonistischen Amazone. Ein mit einfarbigen Strass-Steinen geschmückter Smokinganzug flimmerte im Scheinwerferlichte. Die tropische Tierwelt beeinflußte die Accessoires. Die Textur der Metallgürtel glich einer Pythonhaut. Die Halsbänder hatten die Form einer Schlange. Die Ohrringe mit langen Fransen deuteten obendrein einen gewissen Überschwang an. Der am 1. Juli 2018 im Hôtel Potocki präsentierten Kollektion lag übrigens der burmesische Monsun als Inspiration zugrunde.

Der Schwanensee war das Thema der Couturekollektion der polnischen Modeschöpferin Ewa Minge. Es ging um die Wiedervereinigung zweier Welten. Zum einen war die mit einer Feder im Nebel gezeichnete Welt romantisch und elektrisierend; zum anderen war die Welt das Resultat einer starken und verzaubernden Dramaturgie. Unglaubliche Skulpturen aus Tülle und Stickerei hoben die Geschmeidigkeit der Bewegung zur Musik des russischen Komponisten Pjotr Iljitsch Tschaikowski hervor. Die Ballettänzerinnen, die zwischen den Mannequins zu schwimmen schienen, riefen eine majestätische Atmosphäre im Hotel „WESTIN PARIS“ hervor. Die klare Kollektion entpuppte sich als Verjüngungskur. Die vorherrschenden Pastelltöne wirkten wie Wolken am sommerlichen Himmel über dem See der Lust, wozu Schwarz bei manchen Roben einen spektakulären Kontrast bildete. Blumen aus Vogelfedern neben passenden gigantischen Flügeln auf den Korsetts verlockten zu einer Reise zwischen Himmel und Hölle. Schmucksteine waren auch zu finden. Sehr feminine Silhouetten gingen mit ausgewogenen Proportionen einher. Mit den Kleidern sollte die Trägerin in einen verblüffenden, phantastischen Luxus eintauchen.

Die Marke „ANDI.KP™“ erstreckte sich auf Damen- und Herrenbekleidung. Für deren Gründer Andréa-Kévin Parienti, an der École de la Chambre Syndicale de la Couture Parisienne und am Studio Berçot ausgebildet, stellte die allererste Modenschau eine Uraufführung dar. Das Konzept, die Kleidungsstücke, lebendig wie Leder, mit einer einzigartigen Maltechnik zu versehen und zu markieren, stammte von einer Reise des Modeschöpfers nach New York. Auf der Suche nach Authentizität waren die von der Straßenkunst beeinflußten Entwürfe roh. Es war der Daseinszweck der Kleidungsstücke, „durch die Zeit getragen und weitergegeben zu werden“. In der Veranstaltungsstätte „abc salles Espace 109“ balancierte Andréa-Kévin Parienti zwischen Kreativität und Philanthropie. So eröffnete er behinderten Menschen einen Raum für künstlerische Aktivitäten. Letztlich sollte der Verkaufsgewinn teilweise der unabhängigen, karitativen Vereinigung „handicap international“ zugute kommen.

Ein Debüt erlebten ebenfalls Krishna Godhead und Katharine Grace mit ihrer gemeinsamen Marke „NIHILO“. Krishna Godhead blickte auf eine Ausbildung zum Konzertgeiger bei Yehudi Menuhin in Australien, auf eine Zusammenarbeit mit Künstlern wie Nick Knight, Jürgen Teller und Richard Burbridge in London in den späten 1980er Jahren sowie auf eine Tätigkeit als Modephotographen in London und als Kunstphotographen in seiner Geburtsstadt Perth zurück. Katharine Grace, Dressurreiterin mit zwölfen Jahren, Floristin mit vierzehnen Jahren, furchtlose Rucksackreisende mit sechzehnen Jahren und Assistentin in einem Modehause in Bali in Indonesien mit einundzwanzigen Jahren, war von Natur aus immer eine Entdeckerin. Das besagte Modehaus hatte Katharine Grace schon nach zweien Jahren übernommen. Für Werbebilder war sie an Krishna Godhead geraten, woraufhin er als Geschäftspartner ins Modehaus eingestiegen war. Die erste Couturekollektion, die neunzehn Modelle umfaßte, stellte unter dem Motto „Nicht eins“ eine inhomogene Galaxie dar. Jedes Modell bildete ein eigenes Universum mit eigenen Geschichten und Bezügen. Unterschiede und Gemeinsamkeiten sollten nicht gegeneinander stehen, sondern von Einzigartigkeit und Universalität zeugen. Von den Halsausschnitten bis zu den Silhouetten lief alles auf radikale Nuancen hinaus. Kreisförmige Muster konnten Stücke ohne Anfang, Mitte oder Ende sein. Lineare Muster zeigten die notwendigen Grenzen und Schnitte auf. Feine Kurven umgaben den weiblichen Körper. Starre Ecken umrissen die Psyche. An Kanten zeigten sich die australischen Wurzeln der Modeschöpfer. In der Eleganz offenbarten sich hingegen balinesische Geister in einer wahren Hingabe. Die Kollektion beinhaltete handgefärbte, handgefertigte und handveredelte Kleidungsstücke. Die Modenschau am 2. Juli 2018 im Nationalmuseum des Mittelalters – bis zum Jahre 1980 Museum von Cluny – war nach der Intention der Modeschöpfer „schurkisch“.

In der Vorstellung der georgisch-amerikanischen Modeschöpferin Patuna Bushyhead hob eine Frau ihre schwarze Robe, um ihre Stilettopumps anzuziehen, ging ins Spielkasino von Deauville, setzte sich an einen Pokertisch und spielte wie ein Mann. Eine elegante Frau zu sein war immer ein Trumpf. Unter dem Motto „Carré d’as“ stellte Patuna Bushyhead am 2. Juli 2018 eine neue Kollektion ihrer Marke „PATUNA“ in der Veranstaltungsstätte „LA MAISON DES CENTRALIENS“ vor. Hellrosa Chiffon und beige Tüll waren die Stoffe für fließende Abendkleider mit Drapagen. Mit „SWAROVSKI“-Kristallen und Halbedelsteinen besetzte Spitze gewährleistete Transparenz. In der Bewegung kontrastierten bei Seide die architektonischen Strukturen mit schwindenden Schleppen.

Couture beschränkt sich nicht auf Kleider; Schuhe werden auch erfaßt. Schuhe waren für den in Neapel geborenen Modeschöpfer Diego Dolcini, Absolvent der Domus Academy in Mailand in Modegestaltung nach dem Studium der Architektur am Polytechnikum von Mailand und an der Akademie der Schönen Künste von Bologna, Skulpturen als Ausdruck starker Ideen und Emotionen. Instinkt, Balance und Tapferkeit waren weitere Aspekte. Die Trägerinnen sollten sich sexy, glamourös und unbesiegbar fühlen. Mit einem Blicke auf die Gründung der eigenen Schuhmarke „DIEGO DOLCINI“ im Jahre 1993 aufgrund des Faibles für Schuhe feierte Diego Dolcini nunmehr das fünfundzwanzigste Jubiläum. Anläßlich des Jubiläums kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem für Kristallprodukte berühmten Hause „Baccarat“. Für Diego Dolcini war die Zusammenarbeit eine Ehre; für Daniela Riccardi, Leiterin des Hauses, ergab sich eine Gelegenheit, die Kristallmarke in die Welt der Couture einzuführen. Unter dem Motto „CRISTAL COUTURE“ schuf Diego Dolcini eine limitierte Schuhkollektion mit fünfzehnen Modellen. Für ihn war es ein innovatives Projekt und zugleich ein aufregendes Abenteuer, erstmals in der Schuhmachergeschichte Kristallabsätze zu gestalten. Quelle der Inspiration waren die Produkte aus dem Hause „Baccarat“, beispielsweise der geflochtene Zopf des „Zenit“-Kerzenleuchters und das fransenartige Lüstergehänge. Die markentypischen Töne wie Rot, Bernsteinbraun, Amethystblau und Schwarz kamen hinzu; die typischen Formen fehlten ebensowenig. Das Ergebnis war am 1. Juli 2018 im Ballsaale der Galerie beziehungsweise des Museums der Marke „Baccarat“, dem früheren Privathause der für ihre exzentrische Persönlichkeit und ihr stürmisches Leben bekannten französischen Künstlerin Marie-Laure de Noailles, Vicomtesse de Noailles, in Gestalt einer Installation zu sehen.

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