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Katharsis

Die Mode und das Theater

Theatralisch – die Modenschau „Laura Biagiotti“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 13. Mai 2018
So wie Theater eine „kathartische und wiederherstellende“ Wirkung hat, aktiviert Mode den „kollektiven und individuellen Funken zur Veränderung“. Dies war die feste Überzeugung der Modeschöpferin Lavinia Biagiotti Cigna, die sich wie ihre im Vorjahre verstorbene Mutter und Vorgängerin Laura Biagiotti als Hüterin des italienischen Kulturerbes verstand. In diesem Sinne lud sie ihre Gäste am 25. Februar 2018 ein in das Mailänder Theater „PICCOLO TEATRO DI MILANO ● TEATRO D’EUROPA“, das schon in den zurückliegenden zwanzigen Jahren die Stätte der Modenschauen des Römer Modehauses gewesen war. Dort verschmolzen die Bühne und der Laufsteg für eine Schau des Lebens mit Menschen und Figuren; es war Zeit, die Vorhänge zu öffnen.

Die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2018/2019 prägten Rückblicke und Ausblicke auf die 1990er Jahre, wo für die erste weibliche Generation der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter mit Erfolgen im Berufs- und Privatleben endlich Wirklichkeit geworden war. Heutzutage, bei einer neuen Sicht auf eine weibliche Führungsrolle, sollte die Mode neue Emotionen und Transformationen vermitteln. Um mehrere Rollen selbstbewußt und leidenschaftlich zu interpretieren, gab es eine kultivierte Garderobe mit ikonischen Stücken. Mode als Theater hatte eben Zeit. So experimentierte Lavinia Biagiotti Cigna mit britischen Stoffen. Mit verzierten Steinen und Nieten sowie kleinen und großen Zeichnungen erschienen Tartan sowie Stoffe in Hahnentrittmusterung und Fürst‑von‑Wales-Karomusterung neuartig. Dies ergab sehr weiche, feminine Überzieher. Die romantische Pracht englischer Gärten mit Rosen und Hortensien fand sich auf Seide und Samte wieder. Dazu paßten natürliche und würzige Farbtöne wie Rostbraun, Kamelbraun, Senfgelb und dunkles Grün. Das für die Modemarke typische Weiß wurde lebendiger an Zöpfen, wozwischen eine Hell-Dunkel-Malerei mit der Hand wirkte. Ein dreidimensionaler Trompe‑l’œil-Effekt bei den Mustern verschönerte Mäntel aus Friese. Veränderliche Roben und Blusen aus Chiffon kamen hinzu. Neues Kultstück war jedoch ein unmerkliches und schwereloses Spinnennetz aus Kaschmirwolle mit überlappenden und austauschbaren Teilen. Wärme ging auch von Umhängen samt Kapuze, Etuikleidern und gefalteten Hosen in Naturtönen aus. Inszenierte Umhänge und lässige, kurze Kleider sowie Strass-Steine in Lichtstrahlen und bestimmte geometrische Formen kamen überdies vor. Dunkle Kaschmirmäntel erstrahlten obendrein in funkelnden Flammen. Zum Finale der Modenschau tauchten als Hommage an das besagte Theater und als Dank an dessen Leiter Sergio Escobar vom italienischen Regisseur und Politiker Giorgio Strehler inspirierte schwarze Rollkragenpullover mit den Schlüsselwörtern „BIAGIOTTI“, „PICCOLO“, „TEATRO“ und „MILANO“ auf.

Dem Modeschöpfer Salvatore Piccione aus Sizilien ging es aufs neue um die Idee einer bewußten Weiblichkeit mit Selbstbestimmung und sexueller Freiheit. Das Frauenideal ging über die Ästhetik hinaus, um neue Bedeutungen und soziale Botschaften zu vermitteln. Diesen Ansatz hatte Salvatore Piccione beim russischen Maler, Graphiker und Kunsttheoretiker Wassili Wassiljewitsch Kandinski alias Wassily Kandinsky entdeckt. So befand er sich wie einst Wassily Kandinsky auf dem Wege vom Figurativen zum Abstrakten. Infolge seiner Stilforschung formte sich eine neue Art Muse, und zwar ohne verträumten, noblen Heiligenschein. Wachstum war das Schlüsselwort der im Karyatidensaale des Palazzo Reale gezeigten Kollektion als Ausdruckes einer reiferen Vorstellung von Weiblichkeit mit zeitgemäßen Rollenmodellen. Salvatore Piccione erweckte eindringliche, von der bildenden Kunst inspirierte Drucke zum Leben. Er mischte geometrische Gebilde und malerische Elemente. Derart brachten Schwarz, Blau und Gelb in Mixtur Kreise und Amöbenmuster auf Stoffen wie Crêpe de Chine hervor; Pailletten und aufgestickte Strass-Steine traten hinzu. Gemäß Wassily Kandinskys Farblehre – Schattierungen treten miteinander in Resonanz, um visuelle Akkorde zu erzeugen, auf daß die Seele beeinflußt werde, wie es die Musik tut – dominierten in der Kollektion Primärfarben, wobei Rot in Anlehnung an den Roten Platz in Moskau, lebendiges Gelb und helles Blau den Schwerpunkt bildeten. Eine Bezugnahme auf die Welt der Blumen war immer noch wesentlich für Salvatore Piccione, doch diesmal erfolgte sie in einer moderneren und weniger romantischen Weise weg von der „Zeit der Unschuld“-Stimmung in vorigen Saisons. Sie entwickelte sich zu stärkeren Formen und helleren Farben.

Inspirationsquelle für die Römer Modeschöpferin Stella Jean waren die XI. Olympischen Sommerspiele in Berlin im Jahre 1936, und zwar wegen der Freundschaft zwischen dem afroamerikanischen Sportler Jesse Owens und dem deutschen Sportler Luz Long. Unter dem Motto „THE LONG JUMP AGAINST PREJUDICES“ verschmolzen in der im Karyatidensaale des Palazzo Reale vorgestellten Kollektion Multikulturalismus und Sport. Geschwindigkeit, Kraft und Bewegung lösten sich in unvorhersehbaren Farben auf. Die damalige Farbphotographie beeinflußte die Stoffdrucke. Es entstand eine plastische Dynamik. Die Details der Rennfahreranzüge standen im Gegensatze zu den futuristischen Drucken wilder Farben. Faltenröcke ahmten den Trompe‑l’œil-Effekt linsenförmiger Bilder nach. Es gab ebenfalls plissierte Kleider mit enger Taille. Hahnentritt war das Muster für schräge, schmale Röcke, hochtaillierte Hosen, Jumpsuits und herrenhafte Oberkleidungsstücke, um den bürgerlichen Manierismus der 1930er Jahre zu veranschaulichen. Cady war ein weiterer Stoff für Jumpsuits. Ein blockweise zweifarbiges Strickstück mit handgefertigter Stickerei wies ein Ruderermotiv dank Jacquardtechnik auf. Überhaupt deuteten Stickereien an Hüfte und Taille Laufbahn und Startnummer an. Die Strickstücke aus Mohairwolle erzählten die unvergeßliche Geschichte Jesse Owens’ mit der legendären Startnummer 733. Demgegenüber symbolisierten die Kleidungsstücke mit goldenen Pailletten das ersehnte Siegerpodest. Von umbrischen Kunsthandwerkern handgestickte Blumen an Kleidern, Tops und Oberkleidungsstücken stellten den Siegerkranz dar. Die hohen Schnitte waren nichtsdestoweniger weiblich.

Nach der eigenen Devise „Lokal handeln und global denken“ hatte Stella Jean wieder die Entwicklungszusammenarbeit gesucht. Aus dem Dorfe Agbozume in Ghana stammte der Kente, ein von ortsansässigen Handwerkern handgewebter Stoff aus Baumwolle, Leinen und Seide. Tierphantasiesymbolik in hellen Farbtönen erzählte die Geschichte dieses Landes. Aus dem Westen Haitis kamen die handgefertigten Armreifen aus Schmiedeeisen und die henkellosen Handtaschen aus Pappmaché, welche einen leicht naiven Farbphotographieeffekt aufwiesen. Kenia war der Bezugspunkt beim Schuhwerke, wo Stella Jean und die Macher der Pariser Schuhmarke „PHILIPPE MODEL PARIS“ zusammengearbeitet und gemeinsam das Projekt „No One Out“ des Vereines Servizio Volontariato Internazionale (SVI) zu Gunsten von Kindern und Jungendlichen in den Slumgebieten Dandora, Huruma, Kariobangi, Koroghoco und Mathare in Nairobi unterstützt hatten. Das Ergebnis war die limitierte Schuhkollektion „Stella Jean X Philippe Model Paris“ mit Sneakern. Raphiabast bedeckte zur Gänze den Schuh des Modelles „Tropez pata-pata sneaker“ aus Leder mit geometrischen Motiven aus winzigen, lackierten, thermoaktivierten Nieten.

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