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Mal mehr, mal weniger

Modische Kompositionen

Abgeklärt – das Mannequin Reese Robert vor der Modenschau „BROGNANO“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 8. Mai 2018
Der Typ des Dandys faszinierte die Mailänder Modeschöpferinnen Luisa Beccaria und Lucilla Bonaccorsi. Sie suchten ein sehr feminines Pendant. Fündig wurden sie bei der britischen Sängerin und Schauspielerin Marian Evelyn Faithfull alias Marianne Faithfull. Die traumhafte Welt des britischen Schriftstellers und Photographen Charles Lutwidge Dodgson alias Lewis Carroll sowie die Ästhetik des italienischen Malers Giovanni Boldini traten hinzu. Es ergab sich eine modische Komposition von Kontrasten, die verschiedene Stimmen harmonisch ausbalancierte.

Auf dem Gelände der historischen Arena Civica präsentierten Luisa Beccaria und Lucilla Bonaccorsi am 22. Februar 2018 in der klassizistischen Palazzina Appiani – sie war für Napoleon I., Kaiser der Franzosen, in seiner Eigenschaft als König von Italien entstanden – unter dem Motto „A winter symphony“ die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2018/2019. Kleider erschienen mal mit dezenter Kristallzier, mal mit voller Paillettenpracht. Zu Sweatshirts aus Kaschmirwolle paßten Mäntel und Cardigans. Bei weichen und sinnlichen Silhouetten betonten Schärpen und hohe Gürtel die Taille. Auf Seidenkreppe aufgenähte Makrameespitze in Gestalt fast geometrischer Schmetterlinge war ein Hingucker. Ein Stoffdruck in Gestalt einer abstrakten Blume, der einer Flüssigkeit ähnelte, schmückte ein Midikleid. Mit Wildleder eingefaßte Jacken und Westen waren Teile von Anzügen. Blusen mit Farbtupfen hatten perlenförmige Knöpfe. Maxiröcke bestanden aus karierter Shetlandwolle. Silberner, krickentengrüner und blauer Lurex fungierten als Pinselstrichmuster an einem samtenen Hemdkleide. Winterblumen zierten ein in Fil‑coupé-Technik besticktes Tüllkleid. Stickereien und Applikationen erzeugten an einem leichten, langen Kleide aus Organdy einen dreidimensionalen Effekt. Das Spiel mit Texturen und Volumen betraf ein Capekleid. Seidentwill, Broché-Stickerei und Hahnentrittmusterung kamen auch vor. Ein weicher Filzhut gehörte überall dazu. Wildleder, Brokat und Samt waren die Materialien für Stiefeletten bis zum Knöchel, die aus einer Zusammenarbeit mit den Machern der italienischen Schuhmarke „RACINE CARRÉE“ hervorgingen. Foulards und Stoffbörsen bildeten die Accessoires. Die Farbpalette umfaßte noch Pfauenblau, Hochrot, Schamrot, Puderrosa, Beige, Graubeige und Grau.

Dem Römer Modeschöpfer Tiziano Guardini, mit den Preisen „FRANCA SOZZANI GCC AWARD FOR BEST EMERGING DESIGNER“ von der Camera Nazionale della Moda Italiana im September 2017 und „PETA Couture Award“ von der People for the Ethical Treatment of Animals – Foundation im Oktober 2017 ausgezeichnet, war Respekt vor der Umwelt wichtig. Wahrer Luxus war für ihn die Fähigkeit, in Harmonie in der Gegenwart zu leben sowie mit Hoffnung und Heiterkeit auf die Zukunft zu blicken. Inspirationsquelle für die vierzigteilige Kollektion waren die farbigen Berge des Zhangye-Danxia-Geoparkes im Nordwesten der chinesischen Provinz Gansu. „Wenn Männer und Berge sich treffen, passieren große Dinge“, hatte einst der englische Dichter, Maler und Naturmystiker William Blake passenderweise erklärt. Für zwanzig Modelle war ökologischer Serge de Nîmes namens „Earth Fit™“ in Zusammenarbeit mit der in Italien ansässigen Agentur „Creative Room™“ der türkischen Herstellerin ISKO Division Sanko Tekstil Isletmeleri San. ve Tic. A.S., die über die Zertifikate „EU Ecolabel“ und „Nordic Swan Ecolabel“ verfügte, der Stoff, dessen Basis „Bio“-Baumwolle, recycelte Baumwolle und recycelter Polyester waren. Dieser Stoff trat in Verbindung mit Seidenorganza und „Öko-Pelze“ auf. Seidenkrepp und Chiffon kamen hinzu. Anders als bei der herkömmlichen Seide war es den den Raupenpuppen bei der gewaltfreien Seide möglich gewesen, die letzte Entwicklungsstufe zum Schmetterlinge zu erreichen.

Die technischen Materialien, beispielsweise für Knöpfe, stammten aus der Rückgewinnung des Nylonpolymers von Fischernetzen und des Plastikabfalles auf See im Rahmen eines Wasserreinigungsprogrammes. Eine Reihe Mäntel aus regenerierter Wolle in lebhaften und hellen Farben hatte eine bequeme Form für den Alltag. Rosa und Orange waren fluoreszierende Farben als „Hymne an die Freude“. Die Socken gingen aus einer Zusammenarbeit mit der Filmar S.p.A. in Zocco d’Erbusco nahe Wälsch-Brixen beziehungsweise Brescia hervor. Deren Garn „nilo“ war das Resultat des Projektes „Cottonforlife“, nämlich eine völlig umweltverträgliche und sozial verantwortliche Wertschöpfungskette mit ägyptischer Baumwolle zu schaffen. Schuhe aus nahtlosem Obermateriale vervollständigten die Kollektion. Das Tuch ohne Nähte stammte dank der neuen Technologie „X machine“von der Santoni S.p.A. aus Brescia. Herstellerin des Garnes „EVO®“ aus Rizinusöle mit thermischer und natürlich-bakteriostatischer Eigenschaft war die Fulgar SpA in Castel Goffredo nahe Mantua. Zehn Modelle der nachhaltigen Kollektion „frei von Grausamkeit“ waren am 23. Februar 2018 im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci zu sehen.

Der aus Verona stammende und in Mailand tätige Modeschöpfer Manuel Facchini spielte mit Formen und Proportionen nach der Devise „mikro gegen makro“. Die Größe der geheimnisvollen komplexen Muster nahm zu und ab, ihre Form aber blieb gleich. Organische Formen, welche die verborgene Geometrie der Natur wiedergaben sowie auf Pflanzen und Tiere zurückgingen, beispielsweise als Blätter, leuchtende Fische und Schlangenschuppen, tauchten in der Kollektion auf. Die am 22. Februar 2018 in der Veranstaltungsstätte „Teatro Arsenale“ vorgestellte Kollektion, im kultigen Rock-Gothic-Stile der Marke verwurzelt, erhielt in dieser Saison eine dynamische, sportliche Attitüde. Stoffdrucke, Stickereien, Thermosteppung und Laserschnitte gaben den Kleidungsstücken einen dreidimensionalen Effekt. Neue taktile Texturen ergaben sich aus der Zusammenstellung traditioneller Stoffe mit technischen Stoffen wie Lycra; die Polyuräthanbänder stammten vom italienischen Hersteller „FRAMIS“. Die Kernstücke der Kollektion gab es in verschiedenen Größen und Volumen. Sweatshirts, Röcke und Hosen, in fließenden und bequemen Formen geschnitten sowie mit sportlichen Details versehen, bildeten die Tageskleidung für eine entspannte, mühelose Leichtigkeit. Hautenge Abendkleider hatten eine gewundene und sinnliche Silhouette. Die Säume an fließende Roben hatten ein Taschentuch- und Kreisdessin. Rot als einziger heller Ton in verschiedenen Schattierungen traf auf Schwarz und Weiß. Metallische Töne wie Kupfer, Silber und helles Gold bewirkten einen Schimmer als Zeichen ewiger Verwandlung.

Die italienisch-japanische Marke „TATRAS“ war in der Modewoche zweimal präsent. Der Modepräsentation im Palazzo Bovara am 22. Februar 2018 folgte am 24. Februar 2018 die Eröffnung einer Boutique im Mailänder Modeviertel. Der Modeschöpfer Masanaka Sakao zielte auf einen sowohl anspruchsvollen als auch praktischen Lebensstil ab. Es ging um die perfekte Balance zwischen Funktionalität und ästhetischer Sensibilität. Die amerikanischen Sängerinnen Patricia Lee Smith alias Patti Smith und Angela Trimble alias Deborah Ann Harry alias Debbie Harry in einem verwirrten New York der 1980er Jahre führten in der Kollektion zu Rock-Elementen und Pop-Details. Übergroße Bomberjacken standen für Weltbürgertum. Technischer Samtlaminat war der Stoff für Cabanjacken, wohingegen Mäntel aus knitterartigem Ein-Schuß-Jacquard bestanden. Überdies enthielten Jacken und Mäntel beste Gänsedaunen. Metallisches Grau in Fülle spiegelte die Materialstärke des Edelstahles wider. Nach den Läden in Osaka und Tokio wurde die Boutique in Mailand der erste Laden in Europa. Typische italienische Möbelstücke aus den 1950er Jahren befanden sich in den Räumen. Die gewundenen Formen der Stühle und Hocker, mit dunkelbraunem Leder bezogen, standen der Strenge der polierten Stahlregale an Wänden aus Calacatta-Marmor gegenüber. Der Beistelltisch „Ragno“ des italienischen Architekten und Gestalters Carlo de Carli, die von den legendären Bücherregalen „Infinito“ des italienischen Architekten und Gestalters Franco Albini aus dem Jahre 1956 beeinflußten Wanddekorationen sowie die Lichtwand im Stile großer Gebäude des italienischen Rationalismus rundeten das Bild aus der Hand des Architekturbüros „MRZarchitetti“ aus Florenz ab.

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