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Wilde Abstraktionen

Die Mode und die kinetische Kunst

Polnische Vereinigung – die Mannequins Monika Rostek und Marta Przybylska vor der Modenschau „LUCIO VANOTTI“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 5. Mai 2018
Die Mailänder Modewoche hatte weiterhin Aufwind. Enthielt der Kalender der Fédération de la Haute Couture et de la Mode für die Prêt‑à‑porter-Woche im Februar und März 2018 nur noch neunundsiebzig Defilees, so kam der Kalender der Camera Nazionale della Moda Italiana für die Prêt‑à‑porter-Woche im Februar 2018 schon auf neunundsechzig Defilees, wonach beide Modewochen fast gleichauf lagen. Von einer Vorrangstellung der Modemetropole Paris im Bereiche der Prêt‑à‑porter-Bekleidung konnte nicht mehr die Rede sein, zumal da auch die italienische Marke „MONCLER“ mit französischen Wurzeln für die Präsentation der neuen Kollektion von Paris nach Mailand gewechselt war.

Im Hause der Società del Giardino in Mailand präsentierte der für die ohnehin in Mailand beheimatete Marke „MARYLING“ tätige Modeschöpfer Avshalom Gur am 21. Februar 2018 die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2018/2019, die unter dem Motto „Wild Abstractions“ eine Rundreise durch die Welt der modernen Kunst darstellte. Farben, Formen und Linien folgten einer Stilsprache abstrakten Geistes. Wilde Abstraktionen mittels unkonventioneller Stilelemente verschafften klassischen Formen eine neue Balance. Sehr klare Linien und Dekor bildeten eine Brücke zwischen dem bekannten Dessin der Marke und den mobilen Skulpturen des amerikanischen Bildhauers Alexander Calder im Bereiche der multimedialen und kinetischen Kunst. Wie dessen Kunstwerke ihrer Zeit voraus gewesen waren, so befand sich die Marke in steter Evolution. Geometrische Schemata gewährleisteten dank fester Formen und weicher Körper eine dreidimensionale Eleganz. „PANTONE®“-Farben und Mosaiktexturen ergaben daneben ein umfangreiches Stückwerk. Hochgeschlossene Blusen, geschmeidige Hemdkleider, lange Faltenröcke, leicht maskulin wirkende übergroße Hosen und gerade Mäntel drückten schicke Einfachheit aus. Hochrot, Burgunderrot, Blau, Schwarz und Weiß tendierten mit ihrer Kräftigkeit zu einer kühnen Stimmung im Stile der spanisch-französischen Gestalterin Paloma Picasso. Bei den Details vereinten sich geometrische Intarsien und kunstvolle konzeptuelle Nuancen. Italienische Stoffe verstärkten die Abstraktion. Seidenkleider spiegelten die natürliche Schönheit von Vulkanausbrüchen und die charakteristischen Muster gebrannten Tones wider.

Der Mailänder Modeschöpfer Lucio Vanotti befaßte sich mit der Uniformität. Seine spielerischen Gedanken nahmen in Silhouetten komplexer Reinheit Gestalt an, und zwar wie „Totems aus Anhäufungen von Grundformen“. Quadratische Jacken, runde Hosen, rechteckige Blusen und Röcke mit rechten Winkeln hatten ein aufgeblähtes Volumen. Lucio Vanotti setzte auf Zusätze, Schichtungen und Überlappungen sowie farblich hervorgehobene, sich aufeinander stapelnde Blöcke. Mit Blicke auf die Uniformkleidung als Ausdruck bloßer Form und Funktion, aber auch als Identifikationsmittel einer Gruppe, brachte er Arbeitskleidung, Sportkleidung, Postmoderne, New Wave, Hip Hop und Rationalismus auf einen modischen Nenner. Tunnelzüge ermöglichten kontinuierliche Rekonfigurationen. Ein Anorak dehnte sich aus und wölbte sich, um ein Mantel oder Umhang zu werden; Bomberjacken und Sweatshirts bliesen sich auf. Schuhe und graphische Handtaschen ergänzten das sich entwickelnde Kaleidoskop. Natürliche Stoffe wie Tweed, Nadelstreifenwolle, Hemdbaumwolle und Filz sowie technische Stoffe aus reflektierendem oder metallischem Nylon trafen aufeinander. Fuchsienrot, Orange, Gelb und Blau als Einsprengsel luden Weiß, Schwarz, Grau und helles Blau als Melange gleichsam elektrisch auf. Die Kollektion stellte Lucio Vanotti in der Veranstaltungsstätte „Padiglione Visconti“ vor.

Am gleichen Orte zeigte der Mailänder Modeschöpfer Albino D’Amato die neue Kollektion seiner Marke „ALBINO TEODORO“. Für ihn visualisierten Künstler nicht existente Orte, sagten künftige Ideen voraus und entwickelten Visionen. Zeitgenössische Kunst brauchte nicht visionär zu sein; das Ermöglichen einer alternativen Sichtweise reichte aus. In diesem Sinne dachte er an die vom ukrainischen Künstler Alexey Kondakov geschaffenen Aktaufnahmen in Verbindung mit Tableaux Vivants, die Gemälde des italienischen Malers und Lithographen Francesco Hayez sowie die schäbige Gegend irgendeiner modernen Stadt. Inspirationsquellen waren noch die postindustrielle Architektur, die Stadt London und die glitzernden Hollywoodkulissen. Die Kollektion mit ihren typischen Stilreferenzen beinhaltete Couturekleider im Stile der 1960er Jahre, und zwar aus opulenten Jacquard- und Duchessetuchen sowie mit geometrischen, aber femininen Formen. Moderne, bequeme und übergroße technische Puffjacken in Kokonart kamen hinzu. Andere Stücke der Oberbekleidung bestanden aus kamelgelber gewaschener Kaschmirwolle oder garngefärbter einfacher Wolle. Die dekorativen Muster hielten sich im Art-Déco-Stile. Albino D’Amato unterteilte die Kollektion in gewohnter Weise in Abschnitte. Hintergrundbilder entstanden aus luxuriösen Jacquardstoffen in Zusammenarbeit mit der italienischen Stoffherstellerin Gentili Mosconi SpA. Die Schneiderkunst zeigte sich an mit Couturetechniken gefertigten Mänteln und Jacken. Die Welt der Opernmusik verkörperten teilweise mit Kristallen bestickte Kleidungsstücke aus schwarzer technischer Duchesse. Geometrisch gestaltete „SWAROVSKI“-Kristalle schmückten überdies Cocktailkleider. Die Kollektion als Ausdruck eines starken Gefühles der Individualität und einer an Exzentrizität grenzenden Vorstellung von Raffinesse war fragil und romantisch.

Die Werke der niederländischen Maler Frans Hals, Rembrandt Harmenszoon van Rijn und Jan Vermeer van Delft faszinierten die rumänische Modeschöpferin Andreea Constantin, die im Jahre 2009 die Marke „Rhea Costa“ in Bukarest gegründet hatte. Die komplizierten Details der Spitze, der Schimmer des Schmuckes, der Realismus der Seiden- und Samttexturen, die tiefen Farben sowie das strahlende Licht beeindruckten sie sehr. Das subtile Spiel von Lichte und Schatten sowie die Reinheit von Farbe und Form fanden sich sonach in der Kollektion wieder, die Andreea Constantin im Hotel „SENATO“ präsentierte. Es gab romantisch lange Kleider, Kleider in Midilänge für Tag und Nacht, verspielte Hosen sowie Tops. Drapagen sorgten für Volumen. Materialien waren Seide, Seidenvoile, Seidenorganza, Samt, Krepp, Tüll, Macramé-Spitze, Chantilly-Spitze und Viskose. Stickereien aus Seidenspitze und Applikationen mit „SWAROVSKI“-Kristallen kamen hinzu. Mit Kristallen versehene Gürtel und maßgefertigte runde Broschen bildeten die Accessoires. Die Farbpalette umfaßte Schwarz und Puderweiß mit Nuancen erdiger Töne, von glitzernden Goldeinsätzen ergänzt, wie auch Burgunderrot, Smaragdgrün, Blau und Purpur. Übrigens lag der Kollektion der Nachhaltigkeitsgedanke zugrunde. Nach eigener Angabe waren in Richtung auf das „Zero Waste“-Ziel im Entwurfs- und Produktionsprozesse stets weniger als 5 % Textilabfälle entstanden, während die Mehrheit der Zulieferer ein „OKEO-TEX“-Zertifikat gehabt hatte.

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