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Im Westen nichts Neues

Die Pariser Modewoche schrumpft

Gestreiftes Gitter – das Mannequin Olesya Kaplun nach der Modenschau „ANREALAGE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 13. November 2017
In der Antike hatte ein Wettstreit zwischen den Stadtstaaten Athen und Theben um die Vormacht in Griechenland bestanden. Heutzutage konkurrieren Paris und Mailand um den Spitzenplatz unter den Modemetropolen. Im Bereiche der Prêt‑à‑porter-Bekleidung war neulich nicht zu übersehen, daß in Paris eine Schrumpfung im Gange war, doch es sah nicht nach einem Gesundschrumpfen aus.

Hatte einst der Veranstaltungskalender der damaligen Fédération Française de la Couture, du Prêt‑à‑Porter des Couturiers et des Créateurs de Mode neun Tage umfaßt, so waren es in der letzten Saison nur noch acht Tage. In dieser Saison unter der Ägide der Fédération de la Haute Couture et de la Mode waren es wieder neun Tage, aber der erste Tag, der 25. September 2017, verlief mit lediglich einer Modenschau. Wenn man für einen Vergleich mit Mailand diese Veranstaltung und die Veranstaltungen am zweiten Tage auf die übrigen Tage mit ihren etlichen Lücken verteilt, um eine den Mailänder Verhältnisssen gleichwertige Dichte des Programmes zu erreichen, dann sind für Paris eigentlich bloß sieben Tage anzusetzen. Insofern lagen Paris und Mailand in quantitativer Hinsicht nunmehr gleichauf. In qualitativer Hinsicht war in Mailand das gewisse Etwas zu spüren – die Trends für den Frühling und Sommer 2018 wurden dort gesetzt –, während in Paris im großen und ganzen Bewährtes mit einer gewissen Behäbigkeit und Selbstzufriedenheit weiter gepflegt wurde. Paris verlor somit die Vorrangstellung gegenüber Mailand. Aus welchen Gründen auch immer war obendrein die Stimmung in Paris nicht mehr so gut wie einst. Mit der Terrorgefahr ließ sich eben nicht alles erklären. Vielleicht war der Grund eher finanzieller Art. Es fiel schon auf, daß die Veranstaltungsstätten kleiner und unbedeutender wurden. Vor allem schien man das Grand Palais zu meiden. Aus der Beletage des Grand Palais wechselten die Marken „manish arora“ und „LEONARD PARIS“ in ein Restaurant hinter dem Petit Palais sowie die Marke „SHIATZY CHEN“ ins Untergeschoß des Palais de Tokyo. Ins besagte Restaurant zog auch die Marke „agnès b.“ vom Palais de Tokyo.

Glücklicherweise gab es in Paris ein paar Lichtblicke. Für einen sorgte der Modeschöpfer Kunihiko Morinaga aus Tokio mit seiner Marke „ANREALAGE“. Für ihn war eine der allgegenwärtigen treibenden Kräfte in der Welt die Macht, die Licht und Schatten ähnlich überall um die Menschen herum existiere, was sich an der Anstrengung des Einzelnen oder am Willen einer Nation oder gar an der Kleidung zeige. Eingedenk dessen ging es bei der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 um die Beziehung zwischen Kleidung, menschlichem Körper und körperlicher Kraft. Die täglich beim Tragen auf die Kleidungsstücke übertragene Spannung wollte Kunihiko Morinaga veranschaulichen. Dazu bediente er sich der mechanochromen Technologie, die als sensorisches Werkzeug in architektonischen Strukturen eingesetzt wird, um Spannungen und Risse an einem Gebäude zu erkennen und mittels Lichtes sichtbar zu machen. Unter dem Motto „POWER AND LIGHT“ wandte er diese Technologie auf die Kleidung an, um kinetische Energie in Licht zu verwandeln. Mit anderen Worten sollte das Licht die Macht verdeutlichen. So erschienen Kleidungsstücke, die Licht erzeugten, wenn sich die Trägerin bewegte; je stärker die Bewegung wurde, desto heller wurde es. Darüber hinaus deuteten die Formen etlicher Kleidungsstücke die körperlichen Ausmaße von Bodybuildern an. Ärmel und Schulterpartien waren größer als die Körperproportionen. Elastisches Material setzte militärisch angehauchte T‑Shirts, T‑Shirts mit Logo, Blusen und Strickstücke regelrecht „unter Druck“. Das Kinesiologieband, das die körperliche Leistung verbessert, kam ebenfalls vor. Ein wichtiges Material in der Kollektion war der Stoff „Cuben Fiber“ (CTF3), ein sehr leichter, nicht gewebter Stoff, der auf Wasser schwimmen kann, indes fünfzehnmal stärker als Eisen ist, so daß er für Schutzwesten verwandt wird. Für Kunihiko Morinaga verkörperte eine wunderbare Frau als Leuchtfeuer die Macht. Zur Zeit der sogenannten Oktoberrevolution in Allrußland im Jahre 1917 hatte es geheißen: „Alle Macht den Räten!“ Jetzt, und zwar am 26. September 2017 im Palais der Schönen Künste in Paris, lautete Kunihiko Morinagas Parole gewissermaßen: „Alle Macht der Kleidung!“ Es gab also doch etwas Neues im Westen.

Die in Hong Kong ansässige Vereinigung „Fashion Farm Foundation (FFF)“ stellte Modeschöpfern aus Hong Kong erneut in Paris eine Bühne zur Verfügung, um ihr Talent einem internationalen Fachpublikum zu zeigen. Zum vierten Male wurden drei Kollektionen beziehungsweise Modemarken vorgestellt. Diesmal war eine leere Lagerhalle nahe dem Garten der Pflanzen der passende Ort für die gemeinsame Veranstaltung. Für die neue Kollektion ihrer Marke „CYNTHIA & XIAO“ griffen die Modeschöpfer Cynthia Mak und Xiao Xiao auf ihre jeweiligen Kenntnisse und Erfahrungen zurück. Cynthia Maks Kenntnisse in Graphikgestaltung und Xiao Xiaos Erfahrungen mit Strickwaren führten zu einer Reihe kühner graphischer Strickstücke und T‑Shirts, die den Zauber alter Märchen ausstrahlten und die lustige Note einer Urlaubsstimmung wiedergaben. Bei der neuen Kollektion der Marke „id“ spielte der Gegensatz zwischen Romantik und Realismus eine Rolle. Mit einem Blicke auf Pekings Silhouette voller Nebels und Rauches sowie auf das Werk „Dust brick“ des chinesischen Künstlers Nut Brother wollten die Modeschöpfer Julio Ng und Cyrus Wong gerade den Moment der Schönheit – blühende Kakteen der Nacht bei klarer „Skyline“ einmal in der Pfanne blitzend – einfangen. Bei der neuen Kollektion der im Jahre 2012 gegründeten Marke „kenaxleung“ führte der Modeschöpfer Kenax Leung Sportbekleidung, ethnische Handwerkskunst, Installationskunst und Architektur zusammen. Er verband innovative Materialien und exquisite Digitaldrucke. „Cyberpunk-Signaturen“ wie Neonlicht und LED-Wand in einer sonst lichtlosen Innenstadt, was die starke Diskrepanz zwischen Hochtechnologie und prekärem Leben widerspiegelte, wirkten auf die Kollektion ein.

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