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Die neue Nummer 1

Mailand versus Paris in Sachen Mode

Treppe des Erfolges – die Modenschau „SSHEENA“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 12. November 2017
Die Beziehung der Mailänder Marke „GIADA“ zur Kunstwelt erfuhr eine Fortsetzung. Zur Präsentation der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 im Palazzo di Brera am 25. September 2017 spendete das Modehaus der dort untergebrachten Braidensischen Nationalbibliothek zwei nie zuvor veröffentlichte Briefe des italienischen Schriftstellers Alessandro Manzoni. Es handelte sich zum einen um einen signierten Brief an Filippo Guenzati vom 26. April 1850 aus Lesa und zum anderen um einen handgeschriebenen Brief an Paolo Fusi vom 14. August 1855 aus Mailand. Im Hinblicke auf die bevorstehende Veröffentlichung der Briefsammlung des besagten Schriftstellers, war dies eine wertvolle Erweiterung des Bestandes. Mit der Überlassung bekräftigte der Modeschöpfer Gabriele Colangelo seine Liebe zur Kunst und zur italienischen Kultur.

Für die Kollektion setzte sich Gabriele Colangelo mit dem gemeinsamen Werke der amerikanischen Malerin Susan Weil und des amerikanischen Photographen José Betancourt, das heißt mit den visuellen Experimenten bei deren „Blueprint Constructions“, ästhetisch auseinander. So enstanden Landschaftsporträts und botanische Studien aus gestaffelten, in Primärblau tingierten Lichtbildern. Die Farbtöne waren rein und zart. Grau und Weiß standen zwar im Mittelpunkte, ließen aber genug Platz für diffuse Töne. Rosa, Gelb oder Grün, mit etwas Weiß verdünnt, verschmolzen mit warmem Paprikarot zu einem malerischen Farbverlaufe. Botanische Drucke an den Kleidungsstücken ahmten die Formen der Juwelen nach. Die luftigen Materialien wurden schrittweise lebendig. Leichter, fließender Seidenkrepp sowie eine Mischung aus Schurwolle und Seide wurden gepaart, um einen doppelseitigen Effekt auf dem seitlichen „Flügel“, der die locker sitzende, fließende Hose besetzte, zu erzeugen. Architektonische Falten liefen an Röcken hinunter und gewährten einen flüchtigen Blick auf die Farbe. Mäntel setzten sie, gleichviel wie rigoros, in Bewegung. An luxuriösen Tunikakleidern bestimmten sie die Linie. Mit unregelmäßigen Streifen aus Nappaleder versehen, griffen sie Röcke in Gabriele Colangelos Vorstellung buchstäblich an. Flache Rippen in Lochmusterung strukturierten nicht nur gestrickte Kleidungsstücke in rhythmischer Weise, sondern sie prägten auch die Nähte, Säume und Besätze der Hosen.

An einigen Kleidungsstücken gab es einen Glasureffekt, welcher die Stoffoberfläche glänzen ließ. Die vertikal ausgerichteten Silhouetten beruhten auf fließenden Linien und erhielten eine Unterstützung von den Farbverläufen. Röcke reichten bis unters Knie oder bis knapp über den Knöchel. Weiche Hosen hatten einen Schlitz, welcher die Schuhe freigab. Die Kleidungsstücke für den Oberkörper samt abgerundeten Schulterpartien waren besonders lang. Bei manchen Kleidungsstücken hatte die „strukturelle Evolution“ eine Hauptrolle; ein Hemd in Maxigröße verwandelte sich in einen Mantel aus Baumwolle und Seide, in eine Kreppbluse oder in ein Overallkleid. Sogar die Accessoires erlebten eine Metamorphose, indem ein harte Steine imitierender Harzguß stilisierte Blätter und sonstige florale Elemente neu interpretierte. Sie waren immens wichtig für die Kollektion, denn es galt, Kleider und Mäntel auf dem Rücken zu befestigen. Zudem kamen sie als Manschettenknöpfe vor. Als „kostbarer Ramsch“ sollten sie außerdem Mäntel bereichern. Sandalen, die entweder ein blattförmiges Juwel vorn oder ein verdrehter Knoten am Fuße hielt, bildeten ebenso das Schuhwerk wie Schuhe samt skulpturiertem Absatze und farblich kontrastierendem, dehnbarem Seidenbande. Die Tragetaschen bestanden aus fein genarbtem Hirschleder. Handtaschen in Kübelform hatten einen übergroßen Korpus und eine überlappende Klappe. An weichen Handtaschen in Kuvertform verwandelte sich der Schmuckverschluß in einen Griff. Klassische Schultertaschen gab es in großer und kleiner Version.

Hinter der im Jahre 2015 gegründeten Marke „SSHEENA“, einem Treffpunkte für Einflüsse von Straßen-, Sport- und Arbeitsbekleidung, steht als Modeschöpferin die gebürtige Mailänderin Sabrina Mandelli, die im Jahre 2008 ihr Studium am Istituto Marangoni in Mailand abgeschlossen hatte. Für Sabrina Mandelli sollten Modeschöpfer Personen ohne Angst sein; dabei dachte sie an ihre Großmutter, die sich als „wahre Sheena“ nie gescheut hatte, ihre Meinung frei zu äußern. In diesem Sinne fing Sabrina Mandelli mit ihrer neuen Kollektion in Anlehnung an den legendären lesbisch orientierten Pariser Nachtclub „Le Monocle“ in den 1930er Jahren die imaginäre frivole Atmosphäre eines verrauchten Art-Déco-Clubs am Rande einer Weltkrise ein, und zwar mit einer rebellischen „Mannschaft“ in schlanken Nadelstreifenanzügen nebst Seidentüchern bar jeder Angst, sich auszudrücken. Es war eine mit Spitze, Blumenmotiven und Ballerinas bestückte Kollektion. Leinenblazer provozierten mit roten Seidentüchern. Steife Zigarettenhosen standen im Gegensatze zu hauchdünnen Tops, die fast alles kaschierten. Das Guckloch des Clubs „Le Monocle“ tauchte als Motiv an der Rückseite von Blazern, an der Vorderseite von Tops und auf Stiefeln auf. Perlenbesetzte Nadelstreifen sorgten für einen weiteren Akzent. Lackstiefel hatten einen klobigen Absatz. Etwas „melancholischer Kitsch“ ging von schmalen, perlenbesetzten Brillen samt verdunkelten Gläsern aus.

Unter Schirmherrschaft der Verwaltung der Stadt Mailand sowie mit Unterstützung seitens des Ministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und seitens der Italienischen Handelsagentur (ITA) wie auch in Zusammenarbeit mit der Camera Nazionale della Moda Italiana verlagerte sich die Modenschau auf den Domplatz vor dem Palazzo Reale. Der bisher exklusive Laufsteg fürs Fachpublikum war nunmehr eine urbane Bühne für alle Passanten. Aus dem Modedefilee wurde eine Modeinstallation. Es war zugleich ein würdiger Abschluß der Modemesse „WHITE MILANO“ vom 22. September 2017 bis zum 25. September 2017, da Sabrina Mandelli mit ihrer Marke „SSHEENA“ als Siegerin des messeeigenen Wettbewerbes „Time contemporary fashion award Milano“ im Jahre 2016 nebenbei deren Spezialgast war. Die Macher der Messe, die um einen Veranstaltungstag verlängert und um zwei Stätten erweitert worden war, standen ebenfalls in Verbindung mit der Stadtverwaltung. Zur Eröffnung hatte sich Ivan Scalfarotto, Unterstaatssekretär im Ministerium für wirtschaftliche Entwicklung, sehr zufrieden mit dieser Modewoche gezeigt: „… die Regierung ist sich der Rolle der Mode bewußt und unterstützt diese Säule der italienischen Wirtschaft.“ Von solch einer Haltung kann man in Berlin nur träumen.

Bei einer Gesamtbetrachtung und -bewertung war festzuhalten, daß die Mailänder Modewoche die Pariser Modewoche, was den Bereich der Prêt‑à‑porter-Bekleidung anlangte, überflügelte. Während in Paris im großen und ganzen Bewährtes mit einer gewissen Behäbigkeit und Selbstzufriedenheit weiter gepflegt wurde, war in Mailand das gewisse Etwas zu spüren. Die Trends wurden kurzerhand hier gesetzt. Irgendwie war in dieser Saison obendrein die Stimmung in Paris nicht wirklich gut.

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