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Modeschöpfer ohne Grenzen

Metaphysik in der Mode

Was für ein Blick! – das Mannequin Chiara Corridori vor der Modenschau „CIVIDINI“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 9. November 2017
Es gibt Ärzte ohne Grenzen und Reporter ohne Grenzen. Da verwundert es nicht, daß es auch Modeschöpfer ohne Grenzen gibt. Zu ihnen gehört Stella Jean aus Rom, denn sie steht allen Kulturen der Welt offen gegenüber. In La Paz in Bolivien hatte sie das Alltagsleben der Menschen beeindruckt. Ihr besonderes Interesse hatte jedoch den Schaukämpferinnen gegolten. Das professionelle Catch Wrestling mexikanischer Art (Lucha Libre) hatte Frauen aus dem indigenen Volke der Aymara (Cholitas), vor allem wegen ihrer traditionellen Kleidung diskriminiert, gedemütigt, mißbraucht, die Chance gegeben, sich von der Hausarbeit zu befreien und Teil der bezahlten weiblichen Arbeiterklasse zu werden.

An sechsen Tagen je Woche hatten diese Cholitas als Vorbereitung auf die Sonntagsschau trainiert, um sich damit in der Welt des Mannes zu behaupten. Den „atemberaubenden“ Schaukampf voller Kraft und vollen Stolzes hatten sie in ihren traditionellen glitzernden und farbenfrohen Kleidern, worin sich für Stella Jean der Stolz auf die eigenen Wurzeln ausdrückte, veranstaltet. Für diese Göttinnnen des Ringes hatte nicht mehr die abwertende Bezeichung „Las Cholitas Lucharodas“, sondern die bewundernde Bezeichnung „Las Diosas Luchadoras“ gegolten. Ihr steter Kampf gegen die Auswüchse einer patriarchalischen Gesellschaft, die sie immer herabgesetzt und abgeschrieben gehabt hatte, war für viele andere Menschen längst ein ermutigendes Zeichen gewesen, sich selbst um einen Platz im Arbeitsleben zu kümmern. Stella Jean zählte sie daher zu den erfolgreichsten Frauen in Lateinamerika. Konsequenterweise gingen Stella Jeans neue Kleider auf die traditionellen Polleras als weite Kleider, deren horizontale Falten die Anzahl der Kinder der Trägerin angeben, in ihren leuchtenden Farben und mit ihren dekorativen Besätzen zurück.

Die am 24. September 2017 im Palazzo Reale in Mailand gezeigte Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 beinhaltete fließende Roben, Faltenkleider, Kleider mit Besätzen im Paracasstile, schulterfreie Kleider und Jumpsuits, Röcke und Tops mit Rüschen und Volants in südamerikanischer Art, Jumpsuits aus Cady, Blusen im amerikanischen Bowlingstile sowie Trompetenhosen. Zur Ausschmückung dienten Drucke, Stickereien und Flickwerk. Die Handmalerei und Handstickerei waren italienischer Herkunft. Überdies griffen sogar die Badeanzüge das Kollektionsthema auf. Zur Vervollständigung hatten glänzende rote und gelbe Boxermäntel einen Hinweis auf das „Stella Jean Wrestling Team“. Abnehmbare Puschel waren ein sehenswertes Schmuckelement. Materialien waren Baumwollflamé, Baumwollpopeline, Cady, Seide als Crêpe de Chine und San Gallo-Spitze. Gestrickte Stücke ließen gleichfalls den amerikanischen Bowlingstil erkennen. Die leuchtenden Farben waren dynamisch. Das Schuhwerk bildeten Bandsabots, flache Schuhe und Sandaletten samt hohem oder minder hohem Bleistiftabsatze. Halsketten und Armbänder waren aus Plexiglase. Es kamen auch Armbänder aus Pappmaché vor; dann stammten sie aus haitianischer Fertigung. Von dort kamen ebenfalls kastenförmige henkellose Handtaschen aus Pappmaché.

In der Veranstaltungsstätte „Garage Sanremo“ ging die Präsentation der neuen Kollektion der in Granarolo beziehungsweise Faenza nahe Ravenna beheimateten Marke „TER ET BANTINE“ mit einer Filmpremiere einher, um der Rückkehr der Marke zur Mailänder Modewoche Nachdruck zu verleihen. Es war das Ergebnis einer Zusammenarbeit der als „Einzelgängerin“ in der italienischen Modeszene bekannten Modeschöpferin Manuela Arcari, die sowieso ein Faible für die Schönen Künste hatte, und des Filmemachers Julian Klincewicz aus New York. Der Spielfilm „Misericordia“, ein Zwei-Kanal-Film, war die Studie der Reise einer Mutter mit ihren Töchtern zur Selbstfindung. Es war ein Studium der Weiblichkeit mit einem Blicke auf Dualitäten. Die unendliche Vorstellungskraft stand der unkontrollierbaren Realität gegenüber. Zwischen Isolation und Assimilation bestand ein empfindliches Gleichgewicht. Sowohl der Geist und die Seele als auch der Körper wurden in Frage gestellt. Um das „universelle Verlangen nach Mitgefühl und Liebe“ einzufangen, hatte Julian Klincewicz den Kurzfilm im Jahre 2017 im Norden Kaliforniens unter anderem mit der sechzehnjährigen amerikanischen Schauspielerin Mackenzie Foy in der Hauptrolle der Nina.

Für die Kollektion selbst setzte sich Manuela Arcari mit ihrer eigenen Vergangenheit und mit der Geschichte der im Jahre 1992 gegründeten Marke auseinander. Die Suche nach Stärke und Verletzlichkeit führte in Anlehnung an den besagten Film zu einer Kollektion zu zweien Teilen. Im ersten Teile ging es um die schmerzvolle Reise einer Mutter; die Reise ihrer Töchter durch Schönheit und Naivität bildete den zweiten Teil. Eine übergroße Jacke aus Lackleder wurde über einem Rocke aus Seidensatin in Midilänge getragen. Eine andere Lederjacke war farbenfroh. Ein Tunikakleid aus durchsichtigem Chiffon ermöglichte einen Blick auf züchtige Dessous. Ein weiteres Kleidungsstück, dessen Gestrick aus mit Lurexadern versetzter Baumwolle bestand, traf auf ein Stück aus Lamé mit Details aus Silber und Platine. Hosenanzug, Bleistiftrock und Bondageweste kamen hinzu. Der Fokus lag auf einfache Linien und unerwartete Details. Die Farbpalette umfaßte Töne wie Türkisblau, Auberginengrün, Zinnoberrot, Rosa, Silber und Platin; Schwarz und Weiß dienten als Kontrapunkt. Weitere Materialien waren Baumwolle als Tuch und Samt. Pumps aus glattem Leder rundeten das Bild ab. Manuela Arcari machte die Kleidungsstücke durch Emotion wertvoll.

Metaphysik war das Thema der neuen Kollektion des Mailänder Modeschöpfers Giuseppe di Morabito, der seine gleichnamige Marke im Jahre 2014 gegründet hatte. Inspirationsquelle war das Werk der italienischen Maler Giorgio de Chirico und Andrea de Chirico alias Alberto Savinio. Deren der europäischen Avantgarde verhaftetes Konzept, Parallelwelten auf Leinwänden zu erschaffen – Büsten und klassische Statuen im Wechsel mit anthropomorphen Vögeln und unmöglicher Architektur in offenen Räumen oder verträumten Zimmern –, übernahm Giuseppe di Morabito. Auf der Suche nach neuen Harmonien gab er dem Dekorativismus der Schneiderkunst eine zeitgemäße ästhetische Gestalt. Die Kleidungsstücke gingen aus einer Neuinterpretation vergangener Modeepochen ohne festes Schema hervor. Innovative Materialien wie Canvas und mit Perlen besetzter Polyvinylchlorid (PVC) sorgten für typisch barocke Silhouetten bei Korsetts und viktorianischen Kostümen. Jacquardstoff, Tüll und Blumendrucke, für die Marke typisch, trafen auf Jacken und Hosen im Raverstile. Historische Materialien waren von ausgefeilter Exzentrik. Federn und Paillettenstickereien bereicherten manche Kleidungsstücke in einem Spiele aus Kontrasten. Es paßte konzeptionell, daß die Mannequins die Kollektion zwischen Skulpturen in einem Bildhaueratelier vorführten.

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