▌EN

Elisabetta Franchi und die ätherische Frau in der Prärie

Die Mode und die Selbstgenügsamkeit

Wohlbehütet – das Mannequin Piene Burgers vor der Modenschau „ELISABETTA FRANCHI“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 7. November 2017
Theatralisch mag es die Modeschöpferin Elisabetta Franchi aus Granarolo dell’Emilia nahe Bologna. Nach ihrer Hommage an María Eva Duarte de Perón alias Evita in der letzten Saison wagte sie für die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 einen Sprung nach Amerika ins späte neunzehnte Jahrhundert. Es war eine Zeit gewesen, wann es mit fester Entschlossenheit um die Emanzipation gegangen war. Ihrer neuen Macht bewußt, hatten Frauen begonnen, sich nach eigenem Gusto zu kleiden; Röcke waren geschrumpft, Kleider hatten an Volumen verloren.

Eine Prärie, genau gesagt ein von einer sanften Brise durchzogenes Weizenfeld, war als romantische Idylle die Landschaft, die den Hintergrund der neuen Kollektion bildete. Aus dieser Landschaft heraus trat eine ätherische Frau, von der Brise gestreichelt, um ihren eigenen Weg zu gehen. Leichte, zarte und raffinierte Stücke waren ihre Kleidung. Sinnliche, lange Kleider aus Seidenvoile, Tülle und Baumwollmusselin, manchmal mit Spitze, Perlen, Bändern oder Fransen verziert, wehten im Winde. Das Ohr als Motiv prägte alle Kleidungsstücke und Accessoires. Dank ihrer partiellen Durchsichtigkeit ließen Spitze und Lochmuster manche Kleider wie sinnliche Lingerie wirken, was zu einem lustvollen, aber nicht allzu dreisten Versteckspiele nach der Devise „Ich sehe dich, ich sehe dich nicht“ einlud. Weit fallende Baumwollkleider hatten Puffärmel, kleine Rüschen, tiefe Halsausschnitte in V‑Form oder Rückenausschnitte. Hohe Kragen und Puffärmel waren an anderen Kleidern vorhanden. Schweizer Pünktchenstoff fand sich bei langen Kleidern. Kurze Kleider aus Seidenvoile hatten entweder kleine Rüschen zu einer hohen Taille oder große Schleifen am Halse.

Ein ausgeklügeltes Weizenährenmotiv aus Kupferpailletten befand sich auf einer Seemannshose aus Serge de Nîmes und auf schwarzen, engen Shorts. Unter weiten Röcken aus Serge de Nîmes im Präriestile staken Petticoats. Weitere Materialien waren Chiffon und Häkelnetze. Reines Weiß und Elfenbeinweiß waren die Haupttöne der natürlichen Farbpalette, die noch Zuckerpapierweiß, Kornblumenblau, Kanarienvogelgelb, Eigelb, Puderrosa, Antikrosa, Schamrot und Gold umfaßte, während Schwarz als Widersacher fungierte. Zu den Kleidern wurden tüllene Handschuhe und weite Hüte, beispielsweise breitkrempige Strohhüte, getragen; Gürtel verwandelten sich in Korsetts. Das Schuhwerk bestand aus flachen Schuhen, applizierten Sandalen, geschnürten Stiefeletten und Cuissardstiefeln. Altmodisch aussehende Schmuckstücke wie Perlenketten und lüsterartige Ohrringe waren ebenso wie bestickte, winzige Handtaschen mit Troddeln die passenden Accessoires. Die elegant verflochtenen Haare fielen lang auf den Rücken. Elisabetta Franchi tat alles, um das Zelt im Hofe der Militärschule Teulié am 22. September 2017 in die passende sonnig-warme Atmosphäre zu tauchen; so brachte orange Licht den Laufsteg regelrecht zum Glühen. Alles in allem war die Kollektion eine „Ode an die Reinheit“.

Eher als Stilistin, denn als Gestalterin sah sich die Mailänder Modeschöpferin Raffaella Curiel. Dem verführerischen Roten Teppiche mit den Diven der Opernbühnen und Filmleinwände, dem Spiele von Reflexen und Suggestionen, widmete sie eine Couturekollektion als Sonderkollektion. Sie verstand es als einen Auftrag zur Ordnung der enormen Widersprüche und des wachsenden Chaos in der heutigen Gesellschaft; aus „künstlerischen Scherben“ sollte ein neues Mosaik der Schönheit entstehen. An die Stelle der abgenutzten Ornamentik setzte sie lineare Strukturen sowie puristische, geometrische Formen auf einfarbigem Grunde, ohne auf jeglichen Dekor zu verzichten, so daß die Formel lautete: Minimalismus plus Barock. Jedes Stück der Kollektion ging auf eine eigenständige Inspiration beziehungsweise Figur zurück. Das Flair der 1960er Jahre durchzog die fünfundzwanzigteilige Kollektion. Kontinuierliche, dynamische Fransen, die in Wirklichkeit raffinierte Kreppröhren waren, ließen ein schwarzes, kleines Kleid – unter der Bezeichnung „Curiellino“ ein Klassiker des Modehauses – lebhafter und charmanter aussehen. Schwebende, lange Federn schmückten ein ganz schwarzes, kurzes Tunikakleid für den Abend. Point d’esprit‑Tüll in unmerklich verschiedenen Nuancen, war in mehr als vierzehnen Lagen übereinander angeordnet, um für ein Kleid den idealen Grauton zu erreichen, welcher der Farbe des zugehörigen Mantels nahekam.

Das goldene Zeitalter des Belcantos kehrte mit einem Kleide und einem Cape als Ensemble zurück. Ein Besatz aus fließenden gediegenen Goldfäden und alten Silberfäden sowie Stickereien zierten dieses Ensemble aus eisweißer Spitze. Die Renaissance wurde sichtbar an einem architektonisch gestalteten, maurisch anmutenden, stahlblauen Mantel aus Mohairwolle. Ein extravagantes, lebhaftes Abendkleid mit Krinoline aus rotem Samte stand für die italienischen Opernhäuser, insbesondere das berühmte Teatro alla Scala in Mailand. Fast im Stile des italienischen Malers und Bildhauers Piero Fornasetti sowie beinahe in der Art von Kupferstichen gehalten, wechselten überhängende opulente, goldgestickte Streifen einander ab. Zwischen neugotischen, goldenen Käfigen wurden etliche bunte, märchenhafte Vögel, von Chinoiserien des 18. Jahrhundertes inspiriert, auf schwarzer Ripsseide (Faille) lebendig. Das Brautkleid samt Hemdkragen aus perligem Seidenmikado war nach Raffaella Curiels Intention vollkommen richtig für eine prüde Nonne. Nur eine unerwartete Kaskade von Volants aus zarter Brüsseler Spitze in der Art der 1870er Jahre an der Rückseite widersprach der Sehnsucht nach Abstraktion und Minimalismus. Es war ein Streben nach dem Imaginären, nach dem Surrealen, das weitere Dimensionen eröffnete; am liebsten hätte Raffaella Curiel da weitergemacht. Die am 23. September 2017 im eigenen Atelier in Mailand vorgestellte Kollektion „ON THE WAY TO SHANGHAI“ wird jedoch nochmals am 10. November 2017 in Shanghai zur Eröffnung der eigenen Boutique gezeigt werden.

Der chinesische Modeschöpfer Jiaqi Zhong und die britische Modeschöpferin Jennifer Nelson stehen hinter der im Jahre 2015 gegründeten Marke „TOMMY ZHONG“, die für die Vereinigung der chinesischen Kultur und der westlichen Kulturen steht. In London arbeiten sie mit anderen Künstlern und Gestaltern aus verschiedenen Bereichen zusammen, um deren Werk als Inspirationsquelle für eine eigenständige Erforschung und Entwicklung neuer Stoffe zu nutzen. Ausgangspunkt der neuen, im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci vorgestellten Prêt‑à‑porter-Kollektion waren seltene und interessante Einzelstücke aus Londoner Läden für alte Kleidung. Anstatt einer Zeichnung bestimmte ein dreidimensionaler Schnitt die Form und die Details jedes neuen Kleidungsstückes. Auf den komplementären Facetten des Unterschiedes beruhte die Kollektion, die im Kerne strukturiert war. Mit der britischen Installationskünstlerin Nadine Shaban, die vorzugsweise Materialien aus industriellen Quellen einsetzt, um die Psyche zu binden, ergab sich ein sinnlicher Diskurs. Dies ermöglichte die Manipulation von Textilien, um Emotionen in physische Formen zu bringen.

Im Konflikte zwischen verlockenden Klassikern und verlockenden zeitgenössischen Künstlern, hatte die Muse in dieser Saison freie Hand, die Grenzen ihrer Selbstgenügsamkeit zu erkunden. Für eine greifbare Reise zur Selbstwahrnehmung gab es Abend- und Freizeitkleidung, auch als Einzelstücke, in klassischen und entspannten Linien, gefüttert und gepreßt. Rosa, Schwarz und Weiß bildeten Farbblöcke, worin Orange stellenweise einbrach; dies schuf eine Landschaft aus skulpturalen Silhouetten. Ein konkretes Äußeres, das heißt die Gegenüberstellung von Stoffen und rohen Veredelungen, verdeutlichte den Abgrund der Zerbrechlichkeit. Mischungen von Techniken verzerrten Stoffdrucke. Gescannte und verwischte Bilder und Materialoberflächen fanden ihre Übersetzung an Textilien. Gleichviel ob beim Siebdrucke mit der Hand oder an Geweben, kamen mühsam herausgezogene, unzerbrechliche Fäden vor, um eine Oberflächenspannung kontrollierter Unregelmäßigkeit zu erzeugen. Der Körper war in Stoff gehüllt oder mit Haut bedeckt, um nach innen hin die Psyche zu festigen. Während das Gemälde „Abstraktes Bild“ des deutschen Malers Gerhard Richter und die Choreographien der deutschen Tänzerin Pina Bausch Jiaqi Zhong faszinierten, beeinflußten die Werke des amerikanischen Malers Marcus Rothkowitz alias Mark Rothko in der sogenannten Rothko-Kapelle in Houston in Texas Jennifer Nelsons künstlerisches Denken.

Weitere Bilder