Azzedine Alaïa als Wiedergänger im guten
Die Mode und die Dystopie
Exotik pur – das Mannequin Naomi Elaine Campbell auf der Modenschau „ALAÏA“ (Bild: Christian Janssen)
Die eher einer vertrauten Runde gleichende Modenschau im eigenen Pariser Atelier eröffnete Azzedine Alaïas Muse, das britische Mannequin Naomi Elaine Campbell, mit einem schwarz-weißen, mit smaragdgrünen Laubmotiven bestickten, kurzen und mit Knebeln versehenen Shearlingmantel in A‑Linie, wozu ein hoher Plastikturban – mit den darin eingewickelten Haaren überhaupt der Fixpunkt sämtlicher Aufmachungen – gehörte; es war das Bild einer afrikanischen Königin. Die davon ausgehende Energie war überall spürbar. Danach verblüfften die Texturen der Strickkleider. Die schwarz-marineblaue Robe, die das amerikanische Mannequin Karlie Kloss trug, wies Bahnen schwarzen, hauchdünnen Chiffons als Einsatz und sich kräuselnde Streifen aus Gestricken auf, was wie eine Rüstung wirkte. Azzedine Alaïa war ein Meister der Trompe‑l’œil-Effekte. Die Kombination aus einer rot bestickten Shearlingjacke mit großem Kragen, Leggings und Stiefeln ließ das Schuhwerk wie Oberschenkelstiefel aussehen. Zu einem Kleide samt Oberteile aus Leoparden- und Kalbsfelle paßte eine bauchfreie Jacke, wobei die Metallverzierungen zwischen den Falten des Rockteiles bis ans Leopardenfell heranzureichen schienen.
Ein Samtkleid samt Rüschenrocke ließ einen an Rosen im Art-Déco-Stile denken, mutete aber auch folkloristisch an. Ein blau-weißes Diamantmotiv auf einem ärmellosen Strickkleide ähnelte einem Argyle-Muster, wirkte aber zugleich mittelalterlich. Die Lampenschirmform der Mäntel war eine Anspielung auf die 1960er Jahre. Die typischen Strickkleider hatten teilweise glitzernde Veredelungen, wohingegen sich die Faltenröcke aus Lederstreifen deutlich von den Texturen abhoben. Azzedine Alaïa beherrschte die Gewichtung von Stoffen. Eine bauchfreie Jacke über einem Bodysuit zu einem schwarz-silbernen, langen Faltenrocke ergab eine Panthersilhouette. Zu einem gestrickten Tanktop gehörte ein schwarzes, skulpturales, von tropfenden Kristallen umrandetes Kleid samt hauchdünnem Tüllrocke, das an den Hüften eine gewölbte Abdeckung aus schwarzem Samte hatte, was wie ein gestrickter Leder- oder Raphiabastsaum aussah. Die Energie stak auch anderswo. Lederanzüge waren gleichermaßen sexy und puritanisch. Stufenkleider aus Chiffon hatten betörende Linien. Mäntel aus Schlangenhaut und bauchfreie Pullover fehlten zu guter Letzt nicht in der Kollektion für den Herbst und Winter 2017/2018. Die Modelegende Azzedine Alaïa verstand es, das Publikum mit etwas Unerwartetem, subtil und gleichwohl reichhaltig, zu überraschen.
Das im Jahre 2005 von der Modeschöpferin Gyunel Rustamova aus Baku in Aserbaidschan gegründete Londoner Modehaus „GYUNEL“ erstreckt sich auf Couture, Prêt‑à‑porter-Kleidung und Accessoires. Gyunel Rustamova war eine erfolgreiche bildende Künstlerin gewesen, ehe sie ihren kreativen Horizont um die Bekleidungsmode erweitert hatte. Ausgangspunkt jeder bisherigen Kollektion waren eigene Ölgemälde. Die aus deren Umwandlung gewonnenen Kleidungsdessins gelangten im eigenen Londoner Atelier als ätherische Drucke auf Seidenduchesse, Seidenorganza, Crêpe de Chine und Crêpe Georgette. Exquisite Handwerkskunst und zeitloses Dessin gingen Hand in Hand bei der Suche nach der allerhöchstem Standarde entsprechenden Mode. Im Hôtel d’Evreux in Paris zeigte Gyunel Rustamova ihre neue Couturekollektion, zu der sie der dystopische Roman „1984“ des britischen Schriftstellers George Orwell aus dem Jahre 1948 sowie der Science-Fiction-Film „EQUILIBRIUM“ des amerikanischen Drehbuchautors und Regisseurs Kurt Wimmer aus dem Jahre 2002 inspiriert hatten. Unter dem Motto „TELEPORTER“ ging es auf eine Reise durch Raum und Zeit. Der Dystopie setzte sie als Utopie avantgardistische architektonische Linien mit natürlichen Elementen entgegen.
Natur und moderne Architektur standen einander gegenüber. Eine Balance zwischen Organischem und Abstraktem bei den strukturierten Textilien löste die Spannung auf. Zwei gegensätzliche Welten verschmolzen in vollkommener Harmonie. Aufruhr kündigten dank der Jacquardwebart strukturierte, lichtdurchlässige Organzaoberflächen mit sichtbaren, losen Metallfäden an. Weiblichkeit und Stärke drückte die Paarung geometrischer Diamantschnitte und weicher, abstrakter, metallischer Drucke aus. Eskapismus zeigte sich bei den Farben, wo es vom Dunklen zum Hellen floß. In einem aserbaidschanischen Märchen trägt die Maid Fitna an jedem Tage ein Kalb auf ihren Schultern, bis es im Erwachsenenalter ein Stier war, um den Herrscher darüber zu belehren, daß alles mit der Praxis zu erreichen ist. Das Modell „Fitna und der Stier“ beinhaltete sonach ein stierförmig geformtes Drahtkonstrukt auf der Schulterpartie des Kleides, was für den weiblichen Machtzuwachs stand. Eine weitere Technik waren Ausschmückungen mit verdrehten Signalhörnen. Gyunel Rustamova dachte unentwegt an Lucy, einen Filmcharakter des französischen Regisseurs Luc Besson, Drogen nehmend sowie immer mehr bessere körperliche und geistige Fähigkeiten entwickelnd. War dies ein optimistischer Blick in die Zukunft?
Seit der Gründung der Marke „INGIE PARIS“ im Jahre 2009 hatte die Dubaier Modeschöpferin Ingie Chalhoub jährlich vier Prêt‑à‑porter-Kollektionen, der Couture nahe, kreiert. Nunmehr stellte sie im eigenen Pariser Atelier eine Kollektion für den Frühling 2018 vor. Nostalgie im Hinblicke auf das süße Leben in Kalifornien in den 1970er Jahren kam auf. Es ging es um die Befreiung des Körpers. Gerade Schnitte und maßvolle Volumen machten Kaftane und leichte Tuniken komfortabel. Die Nachmittags-, Promenaden- und Strandkleider sowie die Hosen, entweder hoch und gerade sitzend oder nur bis unten an die Taille reichend, waren sehr geschmeidig. Dem standen die scharf geschnittenen Schneiderkostüme gegenüber. Die glitzernden, langen Abendkleider waren glamourös und anmutig. Für die Couture übliche Stoffe und technische Stoffe mischten sich. Mit der Hand gefaltete Seide betonte Schultern und Taille. Seidengaze als Typikum der Modemarke und weicher, cremiger Jersey in Neoprentextur als Neuling bildeten einen Kontrast. Blaßgoldene Pailletten mit rosa Reflexen, welche die Haut bedeckten, reflektierten gleichsam die Strahlen der kalifornische Sonne tausendfach. Die Kleidungsstücke mit Ärmeln waren mit Silberpailletten bestreut.
Die paillettierte Nadelspitze (Guipure) sah aus wie eine zarte Maschrabiya, welche die Haut teils verhüllte, teils enthüllte. Die im Muster graphischer Wellen in Pastelltönen bedruckten Seidenmusselindrapagen lenkten die Gedanken auf den Esprit San Franciscos hin. Weiß durchwanderte die lebendigen Farbtöne eines mit Palmblättern bedruckten Pyjamaensembles aus Seide in Bandanaart, wobei sich das Motiv, das Gedanken an Urlaub und Ferien weckte, bei jeder Bewegung entzweite. Schwarz und Elfenbeinweiß galt der Vorzug, und zwar für Seidensatin, Krepp, Ottomanlamé mit funkelnden Reflexionen und Guipure. Ein buntgestreifter Ottoman vereinte lebendiges Rosa und Jadegrün, Aqua und Lila in Nadelstreifen. Beim Schuhwerke und den Accessoires wiederholten sich die Farben der Kleider. Rüschenpumps, Dahliensandaletten, Orchideensandaletten und Mules, deren Absätze eine Höhe von 5 cm, 10 cm oder 12 cm hatten, erweiterten das Schuhsortiment. Bei den Accessoires gab es zum einen handbemalte oder handbestickte Handtaschen und Etuis. Zum anderen waren Blaßgold, Roségold, Spitze und goldene Haare mit Perlenverzierung die Schmuckmaterialien. Mit dem Winde der Freiheit leitete Ingie Chalhoub eine neue Ära, romantisch und modern gleichermaßen, ein.
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