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Das Gibson Girl in Paris

Die Mode und die Revolution

Bekränzte Haare – die Mannequins Chunjie Liu und Helen Bouchard vor der Modenschau „ZUHAIR MURAD“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 7. August 2017
Schönheitsideale unterliegen einem steten Wandel. Ein Schönheitsideal des späten 19. Jahrhundertes und frühen 20. Jahrhundertes war das nach dem amerikanischen Cartoonisten und Illustrator Charles Dana Gibson benannte Gibson Girl als Symbol der Modernität, der körperlichen Attraktivität und des persönlichen Machtzuwachses gewesen: die Figur statuarisch, die Taille schmal, der Kopf hoch. In seiner Zeit verwurzelt, stand das Gibson Girl doch immer noch für zeitlose Eleganz. In dem Bestreben, immer wieder das Savoir-faire zu erneuern und etwas Zeitgemäßes zu erschaffen, nahm sich der Beiruter Modeschöpfer Zuhair Murad dieser Schlüsselfigur an.

Die Couturekollektion für den Herbst und Winter 2017/2018 stellte Zuhair Murad dann unter das Motto „That Gibson Girl“. Er spielte mit der Dualität zwischen Stärke und Zartheit. Ein Etuikleid erschien mit Schleppe, zu einem Bodysuit gehörte ein Cape, üppige, bodenlange Röcke hatten in stürzenden Rückenlinien einen Kontrast. Um den Kontrast zu mehren, stellte Zuhair Murad Textilien und Texturen nebeneinander. Straußenfedern schmückten Saumlinien, Perlmuttfransen gerieten in Wellenform bei jeder Bewegung, bemalte und mit Pailletten bestickte Disteln waren eine Anspielung auf den Jugendstil. Details wie Tüll in Falten und Lagen von Rüschen gaben den Kleidungsstücken eine Leichtigkeit und einen Hauch Romantik. Dieser ornamentale und graziöse Zauber ging einher mit Volantröcken in Midilänge, Herrenhosen, Bolerojacken und Schichten Seidensamtes. Die Farbpalette umfaßte Graugrün, Puderrosa, Cremeweiß, Elfenbeinweiß und Pechkohlenschwarz. Das Publikum im Hôtel Potocki – Heimstatt sowohl der Handels- und Industriekammer von Paris als auch der Regionalen Handels- und Industriekammer Paris - Île‑de‑France – am 5. Juli 2017 war begeistert.

Die Modewelt revolutionieren wollte der Modeschöpfer Yuima Nakazato aus Tokio. Da maßgeschneiderte Kleidung, vornehmlich die Couture, anders als für die „reichsten Leute“ kaum erlangbar war, dachte er an maßgefertigte Kleidung in Massen für jedermann. Er sah es als seine Aufgabe an, Couture und Massenproduktion – die Jeanshose war beispielhaft ein universales Massenprodukt – zusammenzubringen, was er mit Hilfe digitaler Technik erreichen wollte. Ein halbes Jahr lang hatte sich Yuima Nakazato mit der 3D‑Technik zum Entwerfen und Fertigen von Kleidungsstücken befaßt. Der Durchbruch war ihm gelungen, als er einen Weg gefunden hatte, herkömmliche, alltägliche Materialien wie Schurwolle, Baumwolle und Nylon, die in der digitalen Fabrikation schwierig zu kontrollieren gewesen waren, weiterhin verwenden zu können. Bei all der nötigen oder üblichen Handarbeit hatte er moderne Technologie und Handwerk zusammenführen müssen. Zusammen mit Ingenieuren, 3D‑Gestaltern und Bildhauern hatte er in Japan die Technik „3D UNIT CONSTRUCTED TEXTILE“ entwickelt, um alle denkbaren Typen, Formen und Silhouetten paßgenau für die Figur der potentiellen Trägerin gestalten zu können. Kleidungsentwürfe sollten ohnehin anpassungsfähig sein und mit den Kundinnen wachsen. Daß der vor Yuima Nakazato liegende ästhetische Weg von seinen digitalen Entwürfen zur Vollkommenheit zwangsweise handgemachter, klassischer Couture ein weiter war, schreckte ihn nicht ab, denn ihm war längst klar, daß es sich um ein langfristiges Vorhaben handelte. Wenngleich er sich noch in der experimentellen Phase befand, brachte er als weiteren Schritt, um zu erkunden, was schon möglich war, neun Aufmachungen zum Thema der 1950er Jahre auf die Bühne des Hauses der Kultur Japans in Paris, worunter beispielsweise ein Jeansanzug, eine Lederjacke, ein Abendkleid und Christian Diors berühmter Barsuit in Yuima Nakazatos Version waren.

Die neue Couturekollektion ihrer Marke „COPPÉLIA PIQUE“, welche die Pariser Modeschöpferin Axelle Migé in der Kunstgalerie „Dièse 22“ vorstellte, war eine Hommage an die französische Malerin und Tänzerin Anne-Kennory Kim. Auf der Grundlage, daß Anne-Kennory Kim vor mehr als zehnen Jahren Axelle Migés erste Ausstellung organisiert hatte, entwickelte sich ein Dialog zwischen den beiden Künstlerinnen. Ein Schlüsselwort dieser Entwicklung war der geheimnisvolle Vorname Kennory, der auf eine Schutzgottheit der Wälder und Berge hindeutete. In wunderbarer Weise verkörperte Anne-Kennory Kim diese Figur mal ätherisch, mal melancholisch, mal boshaft, mal freudig. Unter dem Motto „HUMANO“ drehte sich die Kollektion um Anne-Kennory Kims Leben und Werk, wobei Axelle Migé zusätzlich den Dokumentarfilm „HUMANO“ des argentinischen Regisseurs Alan Stivelman aus dem Jahre 2013 einbezog. Im einzelnen befaßte sich Axelle Migé nicht nur mit Anne-Kennory Kims Leidenschaft für Asien und deren kontemplativen Blicke auf die Natur, sondern auch mit deren Psyche. Es war eine Herausforderung, bei den Kleidungsstücken zu experimentieren und die Tuche der Nachfrage aus der Öffentlichkeit gemäß zu reproduzieren. Reines Weiß galt für Seide und sonstige Stoffe aus Naturfasern. Poesie und Verfeinerung umgaben die Modernität der Schneiderkostüme und der übrigen, verschmommenen Kleidungsstücke in angenehmer Weise.

Der aus Morelia in Mexiko stammende und in Montréal tätige Modeschöpfer Antonio Ortega zeigte seine Kollektion „A cocktail of feelings“ im Hause des Automobilclubs von Frankreich. Die Devise „Without fear“ eines schottischen Hochlandclans war das Leitmotiv. Ohne Furcht waren auch diejenigen Personen, die gewagte modische Trends aufgriffen und in ihre Agenda aufnahmen. So war der in Ablehnung des Massengeschmackes von der Punkkleidung ausgehende Schock bei Metallspitzen, welche die Kleidungsstücke gleichsam zerrissen und die etablierte Ordnung störten, wieder da. Demgegenüber speiste sich die starke Identität indigener Völker aus einer inneren Kraft und einem Überlebensinstinkte. Tartans mit ihren lebendigen Farben erinnerten sonach der Schlachtrufe stolzer Krieger. Die Reinheit der geraden Linie und die ausgeprägte Perfektion eines Quadrates stellten ebenso eine „grausame“ Geometrie dar wie eine scharfe Diagonale und rohe Schnitte. Schurwolle, Seide, Leder und Metall waren die gewohnten Materialien. Ein Kristallfunken und eine Explosion von Farben ergaben einen berauschenden Cocktail von Emotionen für die selbstbewußte Frau.

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