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Ohne Raserei

Die Mode und das Nationalepos

Dominanz – das Mannequin Inês Junqueira vor der Modenschau „Fatima Lopes“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 23. Mai 2017
Es muß nicht immer ein Defilee sein. Der Pariser Modeschöpfer Rabih Kayrouz aus dem Libanon präsentierte seine Kollektion „MANUEL“ für den Herbst und Winter 2017/2018 am 5. März 2017 im eigenen Atelier, wo der Schauraum mit Puppen und Kleiderständern den Laufsteg mit Mannequins ersetzte. Daß der Kalender der Chambre Syndicale du Prêt‑à‑Porter des Couturiers et des Créateurs de Mode diese Schauraumpräsentation dennoch als Defilee auswies, führte zu Überraschung und Verwirrung bei den Besuchern, zumal da diese Kollektion bereits in der letzten Couturewoche, und zwar am 22. Januar 2017, zu sehen gewesen war.

Indes verfolgte Rabih Kayrouz mit dem Motto „MANUEL“ ein neues Konzept, das sich auf Kleidung und Schmuck erstreckte; es galt Eleganz und Handwerkskunst miteinander zu verbinden. Dabei vertraute er auf seine Muse, die französische Schauspielerin und Regisseurin Amélie Daure, die für die Werbekampagne als Mannequin fungierte. Die handgefertigten Kleidungsstücke waren demzufolge in ihrer Einzigartigkeit der Couture näher als der Prêt‑à‑porter-Bekleidung. Die Freiheit der Bewegung war für Rabih Kayrouz unerläßlich. Ohne Raserei zog er gedanklich eine persönliche, intime Furche; die Wellenlinien waren dann so flexibel, als hätte man sie mit dem Zeigefinger in den Sand gezeichnet. Dies bedeutete für Kleidung und Schmuck gleichermaßen fließende Silhouetten. Kleider und Tops aus Seidensatin mit unregelmäßigen Rüschen trafen so auf einen Mantel aus verfilzter Kaschmirwolle. Schwarz, Elfenbeinweiß und Rot waren die dominanten Farben der Kleidungskollektion. Die Schmuckkollektion beinhaltete handgefertigte Manschettenarmbänder, deren Gestalt der Wirbelsäule eines gewaltigen Seeungeheuers ähnelte. Die unregelmäßige Anhäufung der Bänder wirkte auch eingedenk des Einschlusses weißer Gipsabdrücke wie eine Fessel. Es sah so aus, als würde das Handgelenk von einer fremden Hand umgriffen. Das Silber und das 20karätige Gold für den Überzug kamen von einer Gruppe Tuaregleute, während das Holz aus einer Werkstatt in Piemont stammte. Die tragbaren Skulpturen sollten eher als Kunstwerk denn als bloßes Armband die Trägerin schmücken. Alles in allem war die gesamte Kollektion ruhig und handlich.

Das Jahr 2017 bedeutet für die Finnen einhundert Jahre Unabhängigkeit vom Russischen Reiche. Mit der neuen Kollektion der finnischen Marke „marimekko“ feierte die Modeschöpferin Anna Teurnell die Kultur und Tradition Finnlands auf einer Modenschau in der Botschaft der Republik Finnland. Inspirationsquellen waren die finnische Folklore und das Nationalepos Kalevala; überall in der Kultur kam die Natur Finnlands vor. Nebenher zeigte der polnisch-schwedische Modephotograph und Regisseur Kacper Kasprzyk, den die Textildrucke der Marke inspiriert hatten, seinen Dokumentarfilm über gewöhnliche Orte in Helsinki aus einer ungewöhnlichen Perspektive. In der Veranstaltungsstätte „ÉLÉPHANT PANAME“ zeigte die portugiesische Modeschöpferin Fátima Lopes ihre neue Kollektion, deren Aufmachung resolut war. Fátima Lopes bevorzugte edle Materialien, kräftige Farben und feste Strukturen. Gerade und kurvige Linien wechselten sich ab. Die einzeln kreierten Silhouetten waren asymmetrisch und graphisch. Die Zusammenstellung der Materialien war harmonisch. Pelz und Kaschmirwolle gingen ein üppiges Bündnis ein. Leder und Lamé erschienen in einer modernen, rockigen Version. Schurwolle und bestickter Samt kamen hinzu. Das Schuhwerk bestand aus niedrigen Stiefeln mit zugespitztem, geschnürtem Absatze, sexy Pumps mit Bleistiftabsatze und teuflischen Sneakers.

Am 6. März 2017 stellte der aus Mexiko-Stadt stammende und in New York tätige Modeschöpfer Victor Barragán, dem die Fragen der Geschlechtsidentität und des Medienkonsums wichtig waren, seine Kollektion „Larmes Prehispaniques“ in der Veranstaltungsstätte „The Community“ vor. Die Inspiration zur Kollektion kam von der mexikanischen Folklore; auch das in angloamerikanischen Medien aufgetauchte Bild „erotica“ war nicht ohne Einfluß, doch in einer Weise für lateinamerikanische Menschen. Die sorgsam kuratierte Kollektion sollte eine Alternative zur herkömmlichen Bekleidung sein, und zwar durch die Abwandlung von Basisstücken in unübliche Variationen. Schlichte weiße T‑Shirts und Bluejeans kehrten wieder als Trägertops, Schürzen oder Kleider oder gar als eine Kombination verschiedener Stücke in einem. Samt, Seidentaft und schwarzes Leder bildeten den Grund, worauf durchsichtige Stoffe lagen. Die multifunktionalen Kleidungsstücke in einer unbestimmbaren Linie nahmen keine Rücksicht aufs Geschlecht der sie tragenden Menschen. Die veganen Sneakers stammten von der belgischen Marke „ROMBAUT“, weil Victor Barragán deren geschlechts- und fleischloses Konzept schätzte. Die zwei Schuhmodelle mit einer klobigen, aber leichten Sohle stellten eine Collage unterschiedlicher Stile dar.

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