MODE UND KULTUR

Zwischen Rheinnixe und venezianischer Kurtisane

Die Mode und der Musikklassiker

Nicht ohne seine Muse – der Modeschöpfer Stéphane Rolland und das Mannequin Nieves Álvarez García vor der Modenschau (Bild: Christian F. Janssen)

Von Christian F. Janssen — 4. Februar 2020
Meisterwerke der Musik sind unvergänglich. Die Melodie der Feenmusik in der Ouvertüre zur romantischen Oper „Die Rhein-Nixen“ aus dem Jahre 1864 war so gut gewesen, daß sie der deutsch-französische Komponist Jakob Offenbach alias Jacques Offenbach bei der Barkarole (Nr. 13) der phantastischen Oper „Hoffmanns Erzählungen“ aus dem Jahre 1881 wiederverwandt hatte. Dieses berühmte Musikstück erfreute sich heutzutage bei Modeschöpfern zur Präsentation ihrer Couturekollektion großer Beliebtheit. Auf Giorgio Armani in der letzten Saison folgten nunmehr für den Frühling und Sommer 2020 Georges Chakra am 20. Januar 2020, Stéphane Rolland am 21. Januar 2020 und Yulia Yanina am 22. Januar 2020.

Im Nationaltheater von Chaillot veranschaulichte Stéphane Rolland, daß der Kreis, ohne Anfang oder Ende, ein Symbol für Ewigkeit und Harmonie sowie für das Gleichgewicht des Lebens war. Unter dem Motto „Moonrise“ stand der Kreis auch für den Mond, welcher oft eine weibliche Göttlichkeit andeutete. Wie bei einem Fürsten aus dem Mittleren Osten lag ein großer Mantel aus Seidengaze über einem abendlichen Pyjama aus elfenbeinweißem Seidenkreppe. Ein halber Poncho aus konzentrischen Kreisen kam hinzu. Jeder Schritt und jede sonstige Körperbewegung übertrugen sich auf einen silbern bestickten, kugelförmigen Jumpsuit aus körnigem Seidenkreppe. Alles war im architektonischen Flusse. Ein Bouquet von Halbkreisen auf Knöchelhöhe ließ ein weißes Etuikleid aus Jersey erblühen. In Schleifen drapierte Röcke gewährten bis zur Taille einen Blick auf eine Hüfte oder ein Bein. Die Schulterpartien von Kleidern und Jacken waren eckig, während die Revers rund waren. Stéphane Rolland setzte auf einen starken Minimalismus. Riesige Orchideen aus schwarzer und weißer Seidengaze bildeten einen Käfig an einem silbernen Bustier. Topas bedeckte in Gänze ein anderes Bustier. Eine Skulptur aus Silber und Rauchkristallen umkreiste ein weiteres Bustier. Ein mit Federn besticktes Bustier ging in einen großen transparenten Rock aus Seidengaze über. Es galt zu schweben wie die Skulpturen aus weißen Pailletten an der Brustpartie eines Kleides oder die schwarzen Flügel wie bei der Nike von Samothrake an der Hüftpartie einer Bustierrobe aus irisierendem, fleischrosa Musselin. Metallische Stickereien mit Silberspiegeln, Chromkugeln und Kristallen schimmerten nur, um eine Kurve zu betonen oder eine Bewegung zu beenden. Die Bewegung war für Stéphane Rolland ohnehin eine „unendliche Delikatesse“. Schwarz, Reinweiß und Cremeweiß waren die fundamentalen Farben; für Akzente sorgten Braun, Drillingsblumenrosa und Yves‑Klein‑Blau.

Seit dem Jahre 2014 bemühte sich der Amsterdamer Modeschöpfer Ronald van der Kemp um eine Couture der Zukunft. Der Schönheit und unserem Planeten zuliebe sollte Couture nicht aus unerwünschten Materialien erschaffen werden. Zur Herstellung der Kleidungsstücke sollten keine neuen Stoffe oder Felle verwandt werden. Achtundsechzig Kleidungsstücke, und zwar fünfzehn Stücke aus vorigen Kollektionen, sieben recycelte Stücke aus vorigen Kollektionen, einundzwanzig überarbeitete Stücke und fünfundzwanzig neu gestaltetete Stücke, ergaben die achtunddreißig Trachten der Kollektion „WARDROBE 11“, welche Ronald van der Kemp in der Residenz des Botschafters des Königreiches der Niederlande in Paris präsentierte; es war seine sechste Modenschau. Der überstickte Unterrock eines Trompetenrockes aus Wollsatin hatte die Form eines Lampenschirmes; ein Harnisch und Fingerhandschuhe aus Leder sowie ein besprühter und deswegen glitzernder Matrosenhut rundeten das Bild ab. Eine drapierte skulpturale Robe im römischen Stile hatte ein Brustteil aus Spitze und ein gemoldetes plissiertes Rockteil. Seitenverkehrte Schlitzdetails wies eine Korsettrobe aus Seidensatin und Wildleder auf. Ein Ledergürtel hielt eine Jacke mit Ziegenhaarbesatze und einer Intarsie aus Lackleder und Lammfelle in Gestalt eines Pferdekopfes über einer Herrenjeanshose mit Umschlage zusammen, während Schnallenhandschuhe aus Lammfelle die Hände bedeckten. Eine Schößchenjacke samt asymmetrisch gefaltetem Kragen und Ballonärmeln aus Seidenorganza harmonierte mit einem Schößchenrocke aus Seidenorganza in Bleistiftform und mit fingerlosen Handschuhen aus Lackleder.

Ein Trenchcoat mit asymmetrischen Taftvolants über einer mit Sträflingsstreifen bemalten Jeanshose ließ sich mit einem Holstergurt aus Leder und Lammfelle gürten. Seidenmoiré war der Stoff eines Ensembles aus Bleistiftrocke und Rollärmeljacke samt Wollkrepp- und Seidenorganzabesatze. Eine Bolerojacke in Pythonoptik oder eine mit Rüschen aus Seidenorganza verbesserte Bolerojacke aus gehämmertem Damaste paßte zu einer mit Pailetten versehenen Hose aus Seidensamte und bedrucktem Leder. Eine Etuirobe aus zitronengelbem Seidensatin und -kreppe samt Schleppe aus Musselin hatte goldene Einsätze. Ein Cape aus Samte mit lederner Broschenapplikation in Blumengestalt und mit Posamenteriedetails oder ein Kapuzencape aus Musselin, eine Wollhose mit Einsatze aus Seidensatin und -kreppe sowie ein mit einem Schale aus Seidenkreppe drapierten T#8209;Leibchen bildeten eine Einheit. Ebenso verhielt es sich bei einer bauchfreien Lederjacke mit Applikation aus exotischen Häuten, einer Bluse samt Glockenärmeln aus Baumwollpopelin und einer geflickten Jodhpurhose mit Hosenträgern. Ein Muster aus samtenen Punkten und ein Fransenbesatz belebten die Wolle in Hahnentrittmusterung bei einer Cardiganrobe. Eine Abendrobe aus Wolljersey, Seidensatin und Seidengaze erschien im Tudorstile. Am Bustier eines Minikleides aus Seidenbrokate hingen handgewebte Fransen. Eine Caperobe aus bedrucktem Musselin mit Kunstperlen hatte eine florale Applikation. Eine Lavallièrebluse aus Musselin war zu einem Rocke aus technischer Duchesse mit einer rückseitigen Schleife, einem Ledergürtel samt Keramikspange und langen Handschuhen aus Lammfelle tragbar.

An einer seitlich drapierten Etuirobe verschönerte ein Stoffdruck in Laubgestalt den purpurnen Seidenmusselin. Zur Verschönerung diente auch eine punkige Posamenterie an einer Jacke samt spitzer Schulterpartie aus Seidenduchessesatin zu einem samtenen Minirocke samt Fächertaschen. Durchbrochene Lederhandschuhe ergänzten eine Jacke samt drapiertem Wasserfallkragen mit Bruchsteinapplikation und eine Wildlederhose mit geprägtem Ledereinsatze. Zu einer skulpturalen Robe in Minilänge mit handgemachter Blumenapplikation gehörte ein handgewebtes metallisches Korsett. Das seidene Futter eines Frackkleides hatte ein Leopardenmuster. Eine Stellungnahme gegen falschen Pelz bedeutete die Verwendung übrig gebliebener schwarzer und goldener Fetzen aus vorigen Saisons zur Schaffung eines „Müllmantels“, der wie ein luxuriöser Pelzmantel wirken sollte. Dieser Mantel war in Handarbeit von Handwerkern der Organisation „Carpet for life“ zur Förderung marokkanischer Frauen in kleinen Dörfern in der Sahara beim Gebrauche der alten Boucherouite-Webtechnik zur Herstellung von Teppichen aus Stoffresten und -abfällen gefertigt worden. Es fehlten nur noch Stiefel aus Seidenbrokate. Zu einem samtenen Gouvernantenhute hatte eine Mantelrobe aus doppeltem Woll- und Seidenkreppe Brokatakzente, goldene Paspeln und als Kontrast ein purpurnes Futter. Eine Lammfelljacke samt Revers in Pythonoptik, eine königsblaue Smokingbluse mit Faltenlatze, eine ausgestellte Jeanshose mit Wildlederintarsien und Handschuhe bis zum Handgelenke aus in Pythonmusterung geprägtem Leder kamen zusammen. In Leopardenmusterung bedruckte Seide war der Stoff einer Robe mit handgeformter Plisseeapplikation zu langen Lammfellhandschuhen.

Spitze bereicherte eine Bluse samt Wogenärmel aus Seidenorganza zu einem Maxirocke aus Kunstleder mit Rüschen und Lochstickerei und zu einem kleinen Fedora samt drapiertem Rande. Lammfellhandschuhe tauchten auch zu einer Robe aus Seidenorganza samt Porträtausschnitte mit Zackenfransen auf. Eine Kombination beinhaltetete fließende Stücke, und zwar einen umfunktionierten Herrenblazer aus Serge de Nîmes samt Seidenrevers, eine drapierte viktorianische Seidenbluse mit Rüschen, eine Schlabberhose aus goldener Seide und einen drapierten Turban aus Goldlamé mit Kettendetails. Stickerei mit Fäden und „SWAROVSKI“-Kristallen zierte eine zugleich enge und ausgestellte Robe aus Seidensamte samt betonter Schulterpartie. Lammfellärmel hingen wie Handschuhe an einer asymmetrisch drapierten Bustierrobe. An einer Hose aus Cloquéjacquard hing eine Schleppe aus doppelter Seide, wozu eine Jacke aus in einem Stücke gefärbtem und im Giraffenmuster handbemaltem Seidenorganza paßte. Goldlamébrokat war der Stoff einer flammenden Robe. Eine drapierte Robe samt Rollkragen aus Seidensatin hatte Schleifendetails. Fluoreszierende Farbblöcke kamen bei einer trägerlosen Bustierrobe vor. Die handgemalten Blumen an einer Jacke zu einem Ballonrocke aus rosa Cloqué fluoreszierten ebenfalls. Der Umwandlung unterfielen eine Brokatjacke und ein Lacklederrock, wozu Kraftfahrerhandschuhe aus rotem Leder kamen. Ein drapierter, mit Federeinsatze versehener Samtturban samt Fransenschleier, eine handgewebte Kette und ein Halsband aus Federn werteten eine Kaftanrobe samt kontrastierenden Ärmeln auf. Eine Wickeljacke samt Origamiärmeln aus glänzender Baumwolle, ein zugleich enger und ausgestellter Schwalbenschwanzrock aus Seidenjacquard mit Riesenpunktmuster sowie lange Handschuhe aus Lackleder vervollständigten die Kollektion.

Die aus Österreich stammende und in Antwerpen tätige Modeschöpferin Flora Miranda hatte zwei Fragen. Was sind die Risse in unserem System? Was passiert, wenn die Risse zum System werden? Für Flora Miranda war der gezielte Einsatz von Fehlinformationen („Fake News“) nicht nur eine Waffe, die seit Jahrhunderten in Kriegen eingesetzt worden war, sondern er hatte unser System – die Gesellschaft basierte auf Vertrauen, Ehrlichkeit und Moral – im letzten Jahrzehnte hartnäckig zerstört, was das Weltnetz mit seiner immensen Reichweite erleichtert hatte. In der Veranstaltungsstätte „Garage Lubeck“ zeigte Flora Miranda mit der Kollektion „Cyber ​​Crack 2020“ die Systemrisse auf, indem sie mit den Grenzen menschlicher Wahrnehmung spielte und die visuellen Bedeutungen herausforderte. In Anspielung aufs Netz hatten schwarze Kleider ein weißes und weiße Kleider ein schwarzes Gittermuster. Dies ging auf eine Zusammenarbeit mit der in Wien lebenden italienischen Künstlerin Esther Stocker, deren Werk horizontale, vertikale und diagonale Linien sowie Gitterstrukturen wie auch Schwarz, Weiß und verschiedene Grautöne kennzeichneten, zurück. Die zur Stimmung passende Musik stammte vom Berliner Elektronikmusiker Alexander Wilke-Steinhof alias Alec Empire, der seit langem gegen die Netzüberwachung und gegen den Mißbrauch des Weltnetzes für politische Zwecke kämpfte. Die Parole des Widerstandes lautete: „Übernehmen Sie die Verantwortung! Macht ergreifen!“

Im Hôtel Le Marois zeigte der aus Pakistan stammende und in Australien tätige Modeschöpfer Aleem Yusuf die Kollektion „Obsession“ als Hommage an Melbourne. Der für diese Stadt typische Farbton „Melbourne Black“, ein zu jeder Jahreszeit tragbares Schwarz, war daher für die Kleider unverzichtbar. Aleem Yusuf machte klar, daß Couture wie eine Rose schön, wild und zerbrechlich sein konnte. Am gleichen Orte stellten die Warschauer Modeschöpferinnen Ewa Gawkowska und Małgorzata Szczęsna die Kollektion ihrer Marke „La Métamorphose“ vor. Unter dem Motto „Les Couleurs de l’Âme“ erschien die Frau als Muse zur flüchtigen Inspiration des Dichters. Im Sinne des französischen Schriftstellers René François Armand Prudhomme alias Sully Prudhomme befand sich im Herzen und hinter der Stirn eine unsichtbare, aber gegenwärtige Seele. Den transparenten französischen Tüll als Seele der Kleider hoben Musselin, Seide, Seidensatin und Taft in Pastelltönen hervor.

Weitere Bilder