MODE UND KULTUR

Flower-Power

Die Mode und der Grunge

Zum Ende der Modewoche – Mannequins vor der Modenschau „ALEXANDRA MOURA“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 14. November 2019
Der letzte Tag der Mailänder Modewoche war nur noch ein Anhängsel der anderen Tage. Statt eines vollen Programmes enthielt der Veranstaltungskalender lediglich zwei Modenschauen, die man besser auf den Vortag terminiert hätte. Immerhin lohnte es sich, die betroffenen Prêt‑à‑porter-Kollektionen für den Frühling und Sommer 2020 in Augenschein zu nehmen.

Die „Aromen der kaleidoskopischen 1970er Jahre“ hatten den Mailänder Modeschöpfer Diego Dossola und die Geschäftsfrau Viola Baragiola zu einer Kollektion im Stile der 1990er Jahre inspiriert. Alles drehte sich um drei Hauptthemen. Erstens standen Schlaghosen, karierte Jacken, Strickstücke in Regenbogenfarben und Kleidungsstücke mit Sommerquasten und bedruckten Blumen für Flower-Power. Zweitens waren Planeten, Sterne, Astronauten, alte Automobile, alte Kühlschränke und radioaktive Abfälle als Motive der Stoffdrucke an langen Kleidern und weiten Röcken aus Seide Symbole für den Weltraum beziehungsweise für die Galaxie und zugleich eine Stellungnahme gegen die Umweltverschmutzung. Drittens gaben farbenfrohe Drucke an Kleidern alte Werbeplakate „schönster Städte“ wie Postkarten wieder. Schuhe mit übergroßen Schnallen im Stile der 1980er Jahre ergänzten einfarbige Jacken und Blusen samt Puffärmeln. Überdies kamen Strickstücke aus Kaschmirwolle und Wolljacquard zu bunten Röcken. Kleider aus Spitze erschienen in Pastelltönen. Die am 23. September 2019 im Palazzo Reale präsentierte Kollektion der Mailänder Marke „ULTRÀCHIC“ war eine Hymne an die Freude, Ironie und Lebhaftigkeit.

Am gleichem Orte stellte die Lissaboner Modeschöpferin Alexandra Moura die Kollektion „Gadidae“ vor. Diese Bezeichnung ging auf die Dorsche (Gadidae) als Knochenfischfamilie in der Ordnung der Dorschartigen zurück. Sowohl die harte Arbeit von Dorschfischern und deren verschiedene Fangtechniken, beispielsweise mit Schleppnetzen als Mittel, als auch das Treiben von Fischhändlern mit ihren Körben voller frischer Fische auf Märkten und Plätzen beeindruckten Alexandra Moura. Die nützlichen Details der Arbeitskleidung und Alltagskleidung der Fischer führten daraufhin zu einer übergroßen Paßform der sportlichen Kleidungsstücke. Die Teppiche an den verzierten Fenstern der Fischerhäuser blieben auch nicht ohne Einfluß. „Albaiosen“ hatten einen starken Einfluß auf Silhouette und Details. Taschen im Überflusse an Westen gingen einher mit Verstärkungen an Hosen für schwerere Arbeiten. Im Hinblicke auf Form und Konzept dekonstruierte und neu interpretierte Kleidungsstücke kamen hinzu. Stoffe waren mit Saumdetails, unveredelten Enden und Applikationen vernäht. Ebenso waren Kleidungsstücke mit anderen Kleidungsstücken zusammengenäht. Seide, Leinen, Baumwolle und Serge de Nîmes schlugen eine Brücke zwischen Klassik und Moderne, Vergangenheit und Gegenwart. Schwarz, Kobaltblau, Orange und Braun spiegelten das Leben der Menschen, die vom Meere lebten, wider.

Eine Reise nach Seattle hatte den Modeschöpfer Cristiano Burani aus Carpi bei Modena zur Kollektion „#GLAMGOESGRUNGE“ inspiriert. Die Krinoline, schlicht und bestickt, erzeugte als Protagonistin der Kollektion strukturierte Schichten wie dreidimensionale Kokons. Stoffdrucke mit unschuldigen Blumenmotiven hatten Falten. Cristiano Burani fügte Streifen, Karos und Sparren zusammen; sie waren unter anderem Motive an Strickstücken aus Baumwolle. Baumwolljacquard und Leinenjacquard entstammten der Herrenbekleidung. Stretchbaumwollpiquet wies unregelmäßige Streifen und Karos auf. Echtes Leder behandelte Cristiano Burani wie Tuch. Neben handgebleichtem und handgefärbtem Baumwolldrillich und Seidensatin kamen noch Kaschmirwolle, maschinenbestickter Tüll, doppelseitige Kunststoffduchesse und schattierte Nylonseidengaze vor. Die Farbpalette umfaßte Lederbraun, Kamelbraun, Fuchsienrot, Orange, Gelb, Stahlgrün und Smaragdgrün. Mules begegneten Kampfstiefeln mit halbtransparenter Krinoline und mit Lederdetails. Übergroße Handtaschen in Kuvertform und henkellose Handtaschen samt altmodischen Verschlüssen vervollständigten die bereits am 22. September 2019 im Palazzo Turati gezeigte Kollektion.

Abseits der Modewoche gibt es im herbstlichen Mailand, genau im Modeviertel „MONTENAPOLEONE“, ein Ereignis, das Mode und Wein miteinander verbindet. Im Rahmen der Veranstaltung „LA Vendemmia® 10TH EDITION“ am 10. Oktober 2019 hielt die florentinische Modeschöpferin Chiara Boni, welche die Marke „CHIARA BONI La Petite Robe“ im Jahre 2007 ins Leben gerufen hatte, die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2019/2020 für Besucher in der eigenen Mailänder Boutique bereit; sie verfügte schon über drei eigene Boutiquen, und zwar in Mailand seit dem September 2015, in Rom seit dem November 2016 und in Los Angeles seit dem Mai 2017. Der Kollektion lagen die raffinierte Eleganz und der einzigartige Charme der Alten Welt zugrunde. In magischer Atmosphäre traf die kultige Kleidung auf eine Auswahl bester Roséweine und Prosecchi der im Jahre 1887 gegründeten und in Valdobbiadene nahe Treviso ansässigen Mionetto S.p.A., so daß Anprobe und Verkostung einander abwechselten. Für Chiara Boni war es übrigens das vierte Mal einer solchen Zusammenarbeit.

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