MODE UND KULTUR

Keine Angst vor Virginia Woolf

Mehr Mode aus China in Mailand

Nötige Hilfe – das Mannequin Ana Bary vor der Modenschau „SGM ART · MOUSE JI“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 13. November 2019
Neben Shenzhen ist Suzhou ein wichtiger Platz der Mode in China. Nahe Schanghai ist Suzhou eine bezirksfreie Stadt in der Provinz Jiangsu der Volksrepublik China. Der venezianische Händler Marco Polo hatte die sogenannte Mutterstadt der Seide wegen ihrer vielen Kanäle einst als Venedig des Ostens bezeichnet.

Das im Jahre 1922 als erste Akademie der bildenden Künste in China gegründete Suzhouer Technologieinstitut für Kunst & Gestaltung wandte sich nach Mailand als bedeutsame Modemetropole, um in Vorausschau auf das einhundertste Jubiläum der Zusammenarbeit Suzhous mit Italien im Jahre 2020 die in seinem Studienzentrum ausgestellten tausendjährigen Meisterwerke zu feiern sowie den kulturellen Austausch zu pflegen und neue Handelsallianzen einzugehen. Das Projekt beziehungsweise die Veranstaltung „SGM ART · MOUSE JI“ verantwortete der chinesische Künstler und Gestalter Ji Ping Sheng in künstlerischer Hinsicht. Obschon den Studenten als neue chinesische Gestaltergeneration die Techniken der alten Handwerksmeister beigebracht worden war, sollte die kreative Sprache zeitgemäßer werden. Am 22. September 2019 waren auf der Modenschau im Palazzo Mezzanotte, dem Sitze der Borsa Italiana Spa, sechzig Trachten nach der Devise „zeitgemäße Exzellenz und nicht bloß historisches Gedächtnis“ zu sehen. Dahinter standen sechs talentierte Nachwuchsgestalter. Die Kollektion zwischen Vergangenheit und Zukunft spiegelte die grüne Seele der Stadt Suzhou wider und bestand nur aus ökologischen, natürlichen Materialien. Stickereien und Muster beleuchteten das Erbe des ehemaligen Himmlischen Reiches. Klare Linien ließen genug Raum für Bewegung. Eine begleitende Ausstellung beinhaltete authentische kaiserliche Seiden und Juwelen aus der Kaiserzeit wie die Halskette der Kaiserin Xi.

Die aus China stammende und in Belgien lebende Modeschöpferin Shuting Qiu, Absolventin der Königlichen Akademie der Schönen Künste in Antwerpen, hatte ihr internationales Debüt mit der im Jahre 2017 geschaffenen Marke gleichen Namens in der New Yorker Modewoche erlebt; aus dem Wettbewerbe „VFILES Runway 10“ am 5. September 2018 war sie als eine der Sieger hervorgegangen. Nunmehr präsentierte sie die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2020 in Mailand, und zwar im Palazzo Reale. Wenn sie keine Modeschöpferin geworden wäre, wäre sie gewiß eine Schriftstellerin geworden, womöglich eine neurotische. Da sie die britische Schriftstellerin und Verlegerin Adeline Virginia Woolf alias Virginia Woolf verehrte, war die Inspiration nicht ferne. Ihre häufigen Reisen waren eine weitere Quelle der Inspiration. So führte die diesjährige Reise nach Mumbai zu satten, für Indien typischen Farben und bunter Perlenstickerei für besondere Texturen. In Anlehnung an den typischen britischen Stil stellte sie maskuline Tartanstoffe und reiche Stoffdrucke mit Blumenmotiven zusammen. Sie stellte auch leuchtende, „fröhliche“ Farben nebeneinander. Die Verwendung recycelter Materialien im Sinne der Nachhaltigkeit stand dem Anspruche auf luxuriöse Kleidung für moderne, romantische, freie und heldenhafte Personen nicht entgegen. Polyester entstammte in Gänze recycelten Plastikwasserflaschen. Recycelte Perlen enthielten ebenso eine „Geschichte“. Seidenjacquard war ein weiterer Stoff. Asymmetrie und Experimente bei der Silhouette kamen hinzu.

Ebenfalls im Palazzo Reale zeigte der japanische Modeschöpfer Atsushi Nakashima die Kollektion „CLAIVOYANCE“. Mit asymmetrischen Schnitten legte er an transparenten Organzas „geheimnisvolle Innenschichten“ frei. Traditionelle Bandanas mit originalen Mustern wurden ein Element der Kleidung. Durch Überlappung verschiedener Karomuster gebildete Stoffdrucke verschmolzen ineinander. Bilder des menschlichen Körpers, mit der Technik des italienischen Malers und Architekten Raffaello Sanzio da Urbino alias Raffaello gezeichnet, erzeugten als Stoffdruck die Illusion eines hauchdünnen, aus dem Stoffe hervorgehenden Körpers.

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