MODE UND KULTUR

Von Argentinien nach Kuba

Gauchismus in der Mode

Nicht ohne Hut – das Mannequin Júlia Fort vor der Modenschau „GENNY“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 6. November 2019
Der Begriff des Gauchismus ist doppeldeutig. In seiner französischen Bedeutung bezeichnet er eine links von der Kommunistischen Partei Frankreichs stehende radikale politische Bewegung in Frankreich, wohingegen er in seiner spanisch-portugiesischen Bedeutung eine literarische Bewegung um die Welt der Gauchos, der südamerikanischen Viehzüchter, bezeichnet. Der argentinische Schriftsteller Ricardo Güiraldes hatte einst erklärt: „Wenn du wirklich ein Gaucho bist, kannst du dich nicht ändern, denn wohin du auch gehst, wirst du gehen mit deiner Seele, die dir den Weg weisen wird.“ Dies beeindruckte die Modeschöpferin Sara Cavazza Facchini so, daß sie die Gauchos zum Thema der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2020 machte.

Unter dem Motto „ARGENTINEAN DREAM“ stellte sich Sara Cavazza Facchini moderne Amazonen mit Mützen und Schals vor; sie ritten auf wunderschönen Pferden über die weiten Felder der Pampa, wo Luzerne, Weizen und Sonnenblumen unter einem unermeßlichen blauen Himmel im Winde wehten. Die traditionelle Kleidung wilder Gauchos beeinflußte die Linien und Konstruktionen. Deren Romantik und abenteuerlichen Reiz verband Sara Cavazza Facchini mit der für die in Bussolengo nahe Verona beheimateten Marke „GENNY“ typischen raffinierten, femininen Eleganz. Stoffe und Farben unterstrichen die natürliche Stimmung. Die Farben von Gewürzen wie Kurkuma, Muskat, Paprika, schwarzem Pfeffer und weißem Sesame trafen auf die fühlbaren Texturen natürlicher Stoffe. Bast war der Stoff von Jumpsuits in Minilänge und von Kleidern, deren Schwerpunkt auf der Taille lag. Gewundene Formen und kurvenreiche Volumen kennzeichneten knöchellange Hosen, die sich mit kleinen Westen oder mit Kleidern samt tailliertem Oberteile und geräumigem Unterteile kombinieren ließen.

Ponchos erschienen in einer grün-schwarz überarbeiteten Version. Gauchopferde erscheinen als Motiv nicht nur auf einem T‑Leibchenkleid, sondern auch auf einem Mantel aus Wolljacquard. Stickerei sowie Details wie Seile und Riemen hatten einen Bezug zur Reiterei, was ebenso für die Intarsien von Handtaschen aus Wildleder galt. Fransen und Kunstperlenstickerei zierten Hosenanzüge aus silbernem Wolljacquard; bei einer Jacke aus Leinen waren es lediglich Baumwollfransen. Ein Trenchcoat aus Leinen hatte Rüschen an den Ärmeln. Mit Kraft statt Chemikalien gefärbte Serge de Nîmes hatte eine dauerhafte Färbung und eignete sich für die Tagesbekleidung. Die Abendbekleidung umfaßte geräumige Taftkleider; neben Fransen und Falten diente Stickerei in Gestalt von Orchideen – für Sara Cavazza Facchini ein Symbol vollkommener Weiblichkeit – zur Ausschmückung. Das wilde und elegante Aussehen verstärkten zehenfreie Stiefel, deren Schnürsenkel um die Wade zu wickeln waren. Mit Blumenmotiven bestickte Camperohüte aus Wildleder vervollständigten die am 19. September 2019 im Palazzo Mezzanotte, dem Sitze der Borsa Italiana Spa, präsentierte Kollektion.

Der kreative Weg reichte von Südamerika nach Mittelamerika. Izumi Ogino, die Kreative Leiterin bei der italienischen Marke „ANTEPRIMA“, wegen ihrer konzeptionellen Herangehensweise sowie ihrer Vorliebe für zeitgenössischer Kunst und Reisen bekannt, befaßte sich thematisch mit Kuba, insbesondere mit der Hauptstadt Havanna. Die Kollektion „CUENTO DE HAVANA“ spiegelte die farbenfrohe Straßenkunst vor der [post]kolonialen Architektur wider; es handelte sich vor allem um die Heiterkeit derer, die sich der Musik widmeten, sowie um ein Gebäude aus Beton und wiederverwandten Fliesen. Izumi Ogino arbeitete zusammen mit Justė Urbonavičiūtė alias Kissi Ussuki, einer freischaffenden Illustratorin, Graphikerin und Photographin aus Vilnius, die gerne lebhafte Gesichter und Hände farbenfroh zeichnet und malt sowie humorvolle, surreale und absurde Kompositionen mag. So steuerte Kissi Ussuki vier exklusive Illustrationen bei. Bei der Interpretation der exotischen Natur Havannas mittels lebendiger, auffälliger Farben blieben eigentümliche kubanische Elemente wie die Naturblume Marisposa und der Nationalvogel Tocororo nicht unberücksichtigt. Wenn helle Farbtöne die lebendige Seite der Stadt darstellten, standen andere Töne für die ungepflegte Seite. Dies betraf sowohl Kleidung als auch Accessoires.

Gummidrucktechnik und Sticktechnik führten dazu, daß die Graphiken an T‑Leibchen mit lockerer, regelmäßiger Silhouette besonders auffielen. Das Dessin enthielt auch Zitate des amerikanischen Schriftstellers Ernest Miller Hemingway: „Dare to Dream; Live on Purpose“. Vier Farbtöne frischten die Kleidungsstücke auf: Schwarz „099“, Milchweiß „003“, Grau „031“ und Puderrosa „109“. Das verspielte Dessin erstreckte sich auch auf die charakteristischen Strickstücke. Die Stricklinie „ANTEPRIMA x KISSI USSUKI“ beinhaltete verschiedene Ausführungen. Der monotone Pullover bestand aus stabilem Wolldoppeljacquard, um Gewicht und Dicke zu minimieren. Die Modelle „AS20S08232“ und „AK20S08233“ waren verspielte, kurzärmelige Pullover in unterschiedlichen Längen, und zwar 76 cm und 62 cm. Das Modell „AK20S08276“ war ein kontrastreicher, leichter Pullunder, der für Kombinationen in Betracht kam. Aus schnell trocknendem Polyestergarne gewebte und dann auf die Oberfläche der Pullover gestrickte Graphiken waren ein Hingucker. Intarsien kamen bei mehrfarbigen Modellen vor. Zur Abrundung der in einem Zelte im Hofe der Militärschule Teulié gezeigten Kollektion war eine drahtige Handtasche opak-schwarz und opak-milchweiß.

Im Garten des Hotels „Four Seasons“ stellte die aus Los Angeles stammende und in Mailand tätige Modeschöpferin Jennifer Jane Martin alias J. J. Martin die Kollektion ihrer Marke „La DOUBLE J.“ vor. Trägerlose Kleider waren eine Neuheit. Kurze Säume, vornehmlich für junge Menschen, und romantische Volants kamen hinzu. Das Modell „La Scala“ war ein asymmetrisches, trägerloses Kleid mit vielen Straußenfedern. Beim Modelle „Super Smokin’ Hot“ wies das taillierte Kleid einen V‑Ausschnitt, flatternde tuntenhafte Ärmel und einen abnehmbaren Gürtel auf. Das Modell „Mimosa“ war ein fließendes, langes, ärmelloses Faltenkleid aus Baumwolle und seidigem Chiffon mit abnehmbarem Bindegürtel; der andersartig bedruckte Unterrock konnte sogar allein getragen werden. Beim Modelle „Positano“ hatte das Kleid aus Baumwolle und Seide eine Kokonform, wobei die Taillenpartie auf Hüfthöhe sank; der weite Halsausschnitt verlief entweder über eine Schulter oder über beide Schultern. Beim Modelle „Bain Douche“ konnte ein kleines Cape über die Schulterpartie des langen Kleides samt zarter Taillenschnur gelegt oder nach hinten zu dessen V‑förmigem Rückenausschnitte gezogen werden.

Das Modell „Quintana“ tauchte als Strandkleid, und zwar als luftiges, leichtes, geschlitztes Sommerkleid samt Puffärmeln und lässigem V‑Ausschnitte aus Baumwollvoile oder aus schwarzem Stoffe mit magisch gemusterter San‑Gallo‑Stickerei, auf. Das Modell „Paloma“ existierte als trägerloses Kleid samt voluminösen Ärmeln und als Top; in knielanger Ausführung hieß es: „Short Paloma“. Demnach war das Modell „Short Jennifer Jane“ die knielange Version des Modelles „Jennifer Jane“, nämlich ein voluminöses Kleid in Bohemienform samt V‑Ausschnitte und Rüschenärmeln. Die kurze Version des Modelles „Good Witch“, eines Kleides in Midilänge, hieß: „Short Good Witch“; es hatte einen zweistufigen Rock, lange Ärmel mit einer Lasche auf Unterarmhöhe, leichte Rüschen an der Schulterpartie und einen V‑Ausschnitt nebst Schluppe. Beim Modelle „Mini Swing“ als knielanger Version des Modelles „Swing“ konnte das Kleid aus Baumwolle oder Seide zusätzlich mit Pailletten versehen werden. Das Modell „Mini Farrah Fawcett“ war ein Strampelanzug in Jumpsuitform samt Frontreißverschlusse, Brusttaschen und Gürtelschlaufen.

Das Modell „Tangier“, ein Kaftan samt weitem V‑Ausschnitte vorne und hinten sowie weiten Ärmeln, war ideal für den Strand oder die Hochzeit. Texturierte Schußbaumwolle war das Material für Hosen und kontrastreiche Handtaschen. Alle Stoffe, von krausigem Baumwollpopelin über Seidentwill bis zu hauchdünnem Seidenvoile, stammten vom Ufer des Comer Sees nach der Formel „nachhaltiges Einkaufen“. Die Stoffdrucke waren eine Mischung aus archivierten „Vintage“-Mustern und im eigenen Hause neu entworfenen Dessins. Sie ließen sich nach Herzenslust mischen und aufeinander abstimmen. Alles in der Kollektion mochte Jennifer Jane Martin im Büro, im Lieblingskaffeehause, am Strande oder bei einer Hochzeit im sommerlichen Italien tragen. Aus der Zusammenarbeit mit dem aus Carrara stammenden und in Paris im Schuhbereiche tätigen Modeschöpfer Fabrizio Viti ging eine Sonderkollektion mit Schuhen hervor. Modeschmuck wurde überdies eingeführt. Übrigens wirkte sich der Farbkaleidoskopdruck auf brandneue Tischdecken, Bettwäsche, Porzellanteller und Vasen aus. So bestand fortan die Möglichkeit, auch in Bettlaken der Marke zu schlafen.

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