Der Pilz
Dekorative Kunst in der Mode
Mit Brautschleier – das Mannequin Nastya Summer vor der Modenschau „TONY WARD Couture“ (Bild: Christian F. Janssen)
Ein Blick in die Vergangenheit ist lohnenswert. Die dekorative Kunst in den 1930er Jahren mit ihrer „majestätischen Opulenz“ faszinierte die Londoner Modeschöpfer Tamara Ralph und Michael Russo; das besondere Interesse galt den Werken des russisch-französischen Illustrators, Bühnenbildners und Modeschöpfers Romain de Tirtoff alias Erté. Dies wirkte sich auf die Kollektion aus, denn im Stile der dekorativen Kunst prägten schillernde, fächerförmige Stickereien sowie kugelförmige oder sonst geometrische Dessins die Modelle. Ertés Bild „Les Bijoux de Perle“ beeinflußte die Reihen von Perlen an den sinnlich drapierten Abendkleidern mit langgestreckter Sanduhrsilhouette. Kühne Rot-, Rosa-, Gelb- und Blaugrüntöne verschmolzen zu Ombrétönen. Hingegen waren die mit Federn versehenen Cocktailkleider eisweiß und die mit Schmucksteinen besetzten Smokingjacken schwarz. In raffinierter Weise bekam Eleganz eine maskuline Note. Die Modenschau im Garten der Residenz des Botschafters des Vereinigten Königreiches von Großbritannien und Nordirland in Paris wurde als Soirée en plein air dank der facettenreichen Kollektion ein fortwährendes Fest der Lebensfreude.
Die Marke „AZZARO COUTURE“ befand sich in der Schwebe. Nachdem Maxime Simoëns, im Jahre 2017 zum kreativen Leiter bestellt, das Modehaus vor dieser Saison verlassen hatte, verantwortete ein sechsköpfiges Kollektiv – mit beiden Geschlechtern zu gleichen Anteilen – die neue Kollektion. Es ging um Freiheit und Hedonismus. Das Spiel mit Brillanz, Transluzenz und Transparenz führte zur Kunst der Enthüllung. Mal umgaben Kettchen, Kristalle, Nieten oder Metallnägel die Kleidungsstücke, mal kreuzte ein Lurex-Faden die Stücke, um eine Schnurbatik anzudeuten. Die strukturierte Stickerei, welche die Kleider in festlicher Ausstrahlung vibrieren ließ, erschien in einer graphischen Intensität, die dem Couturier Loris Azzaro, welcher die Marke im Jahre 1967 geschaffen hatte, gewiß gefallen hätte. Sie durchbrach ein kurzes Kleid vollständig. Auf dem Bandeau eines Gürtelkleides verstreute Steine kamen ebenfalls vor. An einem Kleide aus blauem Musselin entfaltete sich ein kettenartiges Kunstwerk, wo Kristalle in einen nachtblauen Graben eindrangen und Sterne einen gekräuselten Tüllmantel mit weiten Volants bildeten. Die längliche Silhouette floß ungebunden. Großzügige, architektonische Volumen paarten sich mit fließenden Schnitten. Ärmel, an einem Kleide in Pagodenform und an einem Kaftane in Kimonoart, hatten eine Öffnung, welche das Handgelenk sanft mit Kristallen oder Knoten umfaßte.
Das Durcheinander an den Rändern des Musselins in Degradémusterung oder in glatter Gestalt verwischte dessen Konturen. So eignete er sich für ein hauchdünnes Cape für den nackten Rücken; daneben gab er einem langen Rocke mit Doppelvolants Weite. Verkettete Fransen, fließende Stoffdrucke und metallische Materialien an maskulinen Kleidungsstücken gaben sich als Mischung des Couturekodex und des Geistes der Bohème zu erkennen. Wenn die Volumina mehr Struktur hatten, spiegelte sich die Leichtigkeit der Körperbewegung in der Bewegung von Nieten und Nägeln an Jacken und Hemden wider. Kettchen belebten die Frontseite einer Jacke und tauchten als Monogramm „A“ an der Rückseite wieder auf. Mit Metalleffekten taten sich ein mineralisches Ensemble aus Jacke und Bermudahose, eine technische Windjacke mit Schimmerreflexen sowie ein mit irisierender Wirkung beschichteter Trenchcoat hervor. Pailletten, perlenbesetzte Fransen und ein Stückwerk aus durchsichtiger Spitze brachten überdies Rhythmus in die Kollektion. Pfingstrosenrot, Rubinrot, Smaragdgrün, Indigoblau und Preußischblau ließen die Kleidungsstücke aufleuchten. Die Modenschau in der Stätte der Architektur und des Kulturerbes begleitete die vom amerikanischen Liedermacher Robert Allen Zimmerman alias Bob Dylan und kanadischen Liedermacher Leonard Norman Cohen und auch von der isländischen Liedermacherin Björk Guðmundsdóttir beeinflußte norwegische Sängerin Aurora Aksnes, deren Erfolgsweg mit dem Liede „Runaway“ im Jahre 2015 begonnen hatte, mit einer traumhaften und leidenschaftlichen Musikdarbietung.
Inspirationsquellen für den Römer Modeschöpfer Antonio Grimaldi waren der Spielfilm „I’m no Angel“ mit der amerikanischen Filmschauspielerin und Drehbuchautorin Mary Jane West alias Mae West aus dem Jahre 1933 sowie das Gouachegemälde „Gesicht der Mae West (kann als surrealistisches Lippensofa benutzt werden)“ des katalanischen Malers, Graphikers, Bildhauers und Bühnenbildners Salvador Felipe Jacinto Dalí i Domènech, Marquis de Púbol, aus den Jahren 1934/1935 im besonderen wie auch die Kunst des Schwarz-Weiß-Filmes im allgemeinen. Mae West, Femme Fatale und Männerfresser, beeindruckte Antonio Grimaldi mit ihrem respektlosen und skandalösen Charakter sehr: „Wenn ich gut bin, bin ich sehr gut, aber wenn ich schlecht bin, bin ich besser.“ Dies ließ ihn bei seinen Entwürfen an eine starke und unabhängige surrealistische Frau denken. Unter dem Motto „I’m no angel“ nahm die Farbpalette Gestalt an. Schwarz und Weiß sowie Sandgrau, Anthrazitgrau und Graurosa standen für den Schwarz-Weiß-Film. Den surrealistischen Part übernahmen Rot, Rosa und Purpur. Frech wirkten diese Farbtöne an Kleidern mit asymmetrischen architektonischen Formen, wo Geraden und Kurven einander verfolgten. Leitmotiv der im Hotel „THE WESTIN GRAND“ gezeigten Kollektion waren die Schrägschnitte, die sich wie ineinander eingebettete Bänder aus riesigem Gewebe dem Körper anpaßten. An Kleidern aus Chiffon beruhten die Sonnenstrahlfalten auf Schlitzen und überlappenden Schnitten. Capes flatterten über Kleidern mit Trompe‑l’œil-Wirkung.
Leichte Ballonblusen aus transparenter Seidengaze beziehungsweise transparentem Tripelseidenorganza hatten Krokodileinsätze. Crêpe Cady diente zur Verdoppelung des Taftes. Seidenduchesse gab es in einer weichen und leichten Variante, um die Tragbarkeit zu verbessern. Samt war ein weiterer Stoff in der Kollektion. Neben Stickereien verschönerten schwarz lackierte, facettierte Ketten und Kristalle, die Gitter bildeten, die Kleidungsstücke. Champagnergelbe Pfauenfedern betonten die Leichtigkeit der Stücke. Aufgesetzte Gürteltaschen fungierten als Bestandteil der Kleider. Metallgürtel mit Fransen kamen ebenfalls vor. Der französische Juwelier Bernard Delettrez verstärkte das Aussehen als moderner Mae West mit seinen maßgefertigten Schmuckstücken. Kämme in den Haaren, fingerförmige Ketten an den Hälsen, Piercingringe an den Mündern, Reife mit spitzen Nieten an den Armen sowie Hände und Münder darstellende Ringe an den Fingern waren die Accessoires für die traumhafte Seite böser Mädchen. Die Kleidungsstücke für den Herrn gingen aus einer Zusammenarbeit mit der neapolitanischen Herrenschneiderei „PRINCIPE DELL’ELEGANZA“ hervor, wobei hier der britisch-amerikanische Schauspieler Archibald Alec Leach alias Cary Grant die Vorlage war. Weiche Linien bestimmten die Silhouette der maßgeschneiderten und handgenähten Anzüge samt geschwungenen Schulterpartien und runden, kurvigen Taschen aus Wollstoffen wie grauem Flanell oder Tweed, wozu schwarze lederne Rollkragenpullover paßten; Wollstoff in Hahnentrittmusterung war eine Alternative. Darüber konnten Doppelmäntel getragen werden.
Das Gedicht „Riesig und rot“ aus der Gedichtsammlung „Parolen“ des französischen Lyrikers und Drehbuchautors Jacques Prévert aus dem Jahre 1946 lautet: „Riesig und rot, / Über dem Grand Palais, / Die Wintersonne erscheint / Und verschwindet. / Wie sie wird mein Herz verschwinden / Und mein ganzes Blut wird verinnen, / Verinnen auf der Suche nach Dir, / Meine Liebe, / Meine Schönheit, / Und dich finden. / Wo bist du?“ Unter dem Motto „ROUGE AMOUR“ setzten die Warschauer Modeschöpferinnen Ewa Gawkowska und Małgorzata Szczęsna der roten Liebe Elfenbeinweiß und Gold für Kleider sowie Schwarz für Paillettenmuster entgegen. Sinnlichkeit bedeutete für sie, daß die Silhouette den Leib als Verkörperung der Persönlichkeit hervorhob. Die Kollektion ihrer Marke „La Métamorphose“ war im Hôtel Le Marois zu sehen. Ein Appartement nahe der Place Vendôme diente der Modeschöpferin Farah Al Mesbah aus Kuwait, Absolventin des Central Saint Martins College of Art and Design in London, als Schauraum, um ihre neue Kollektion vorzustellen. Nachdem die Französische Revolution des Jahres 1789, wo die Freude über die errungene Freiheit rasch dem Schrecken gewichen war, das Thema ihrer letzten Kollektion – Zerstörung, Verzweiflung, Trauer, Unglück und Tragödie als Stichworte – gewesen war, widmete sie sich nunmehr einer erfreulicheren Zeit, nämlich der Zeit des Ersten Kaiserreiches. Der Ruhm drückte sich aus in einer Jacke, die wie ein Staatsfrack aussah. Bei anderen Kleidungsstücken fielen sogleich die fließenden Ärmel auf; sie blähten sich auf, als ob der kaiserliche Adler seine Schwingen höbe. Weiße Seide tat ein übriges. Farah Al Mesbah war klar, daß die Menschheit im Schmerze eine neue Weltordnung geboren hatte. In der Liebe erkannte hingegen die Modeschöpferin Anastasia Mathiotte, die nach dem Studium am Katalanischen Institute der Mode in Barcelona und am Central Saint Martins College of Art and Design in London die Marke „Siallow“ für Brautkleider in Sankt Petersburg geschaffen und sich im Jahre 2018 in Frankreich niedergelassen hatte, aller Menschen Heil. Unter dem Motto „One Magnificent Organism“ stellte sie in der Galerie „Espace marie‑robin“ ihre erste Couturekollektion vor, wenngleich sie ihre Zukunft eher im Bereiche der Prêt‑à‑porter-Bekleidung sah. Angesichts der Umweltveränderungen und der Auswirkungen der modernen Gesellschaft auf die Welt galt ihr Interesse der Kleidungsproduktion auf der Basis organischer Fasern.
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