MODE UND KULTUR

Der blaue Planet

Die Mode zwischen Alter und Neuer Welt

Friedfertig – das Mannequin Jung Moon Lee vor der Modenschau „NICOLAS JEBRAN“ (Bild: Christian F. Janssen)

Von Christian F. Janssen — 1. August 2019
Was ist wirklich wichtig? Die Frage, wer man sei und wer man sein wolle, treibt von jeher die Menschen um. Die Herausbildung einer Differenzierung und die Akzeptanz selbiger ist ein alltäglicher Kampf tief in den Menschen selbst. Der Beiruter Modeschöpfer Nicolas Jebran begab sich auf eine Reise in sein Inneres; dabei entdeckte er das Lachen und die Menschen, die er im Herzen trug. Diese neue Perspektive wurde unter dem Motto „My Golden Odyssey“ die Grundlage der Couturekollektion für den Herbst und Winter 2019/2020. Am 30. Juni 2019 zeigte Nicolas Jebran im Armeemuseum im Hôtel National des Invalides in Paris eine Welt von Kleidern ohne Grenzen und ohne Barrieren für Heldinnen.

Farhad Re, mit persischen Wurzeln in Rom geboren sowie zwischen Italien und Frankreich aufgewachsen, hatte als Stilist unter anderem für Schauspielerinnen wie die Schweizerin Ursula Andress, die Britin Joan Henrietta Collins, die Französin Catherine Fabienne Dorléac alias Catherine Deneuve und die Dänin Gitte Nielsen alias Brigitte Nielsen sowie für Ivana Marie Trump, geborene Zelníčková, das ehemalige amerikanische Mannequin tschechisch-österreichischer Herkunft, und auch für Soraya Esfandiary-Bakhtiary, Prinzessin von Persien, gearbeitet. Die erste Couturekollektion mit Kleidern und Accessoires hatte der Verbinder von Tradition und Moderne im Jahre 2003 vorgestellt. Danach hatte er als Kostümbildner für Theater in Italien nicht vor Radikalität zurückgeschreckt, indem er bei den Kollektionen „Psycho Couture“ und „Rock Couture“ Barock, Romantik und Punk mit einer Betonung der Ornamentik zusammengebracht hatte. Im Jahre 2018 hatte der Modeschöpfer sein Atelier von Rom nach Paris verlegt.

In der Residenz des Botschafters der Italienischen Republik in Paris erzählte er anhand seiner aktuellen Kollektion die Geschichte einer Frau in der Zukunft, welche die zusehends verschmutztere Erde für einen neuen Planeten hinter sich ließ. In skulpturalen Kleidern mit Details wie Seidenbändern und Seidenorganzafalten, die Buchseiten ähnelten, gewandet, nahm sie die kostbarste Hervorbringung der Humanität, nämlich die Kultur, mit auf ihre Reise. Fünfhundert Meter Seidenorganzas als des Modeschöpfers Lieblingsstoffes waren nötig für alle dreißig Trachten der Kollektion, die eine mysteriöse, wilde Mischung aus Romantik und Rock ’n’ Roll war. An der Kollektion war Farhad Res Vorliebe für Kontraste abzulesen. Stickerei sollte die Kleider nicht reicher, sondern reizvoller machen, so wie sich ein gutes Buch nicht durch die Anzahl der Seiten, sondern durch den überraschenden Inhalt auszeichnet. Pythonleder kam zu Seidenorganza, um die romantische Linie der Seidenkleider zu brechen, während Fleischrosa in verschiedenen Schattierungen auf strenges Schwarz traf. Seidensatin, Spitze und Pelz waren weitere Zutaten. Zu guter Letzt war das Brautkleid das Abbild einer Frau mit starkem eigenem Willen, was Verehrer zu fesseln vermochte.

Die Kollektion des aus der Nähe Roms stammenden und in Paris tätigen Modeschöpfers Maurizio Galante war eine Hommage sowohl an die mexikanischen Ahnenkulturen, wo ein Gleichgewicht zwischen Menschen und Natur geherrscht hatte, als auch an die ersten Reisenden aus der Alten Welt, die sich aus Neugier und Entdeckungslust in eine unbekannte Gegend begeben hatten. Als Zeichen ihrer Kultur hatten diese Reisenden Kleidung und sonstige Gegenstände in die Neue Welt mitgebracht. Der Legende nach hatten die „neuen“ Männer Kinderkleidung aus glänzenden Tuchen und feiner Spitze, welche in einer Kiste in die Neue Welt gelangt war, ohne Rücksicht auf Material und Form als Accessoires getragen. So hatte es der französische Seefahrer und Geograph Jean-François de Galaup de La Pérouse im Logbuche seines Schiffes „La Boussole“ wie in einem Reisetagebuche festgehalten. In der Kollektion „RESPLANDOR“, die Maurizio Galante in der Bürgermeisterei des 5. Arrondissements zeigte, war der Einfluß von Blumensträußen und Naturarchitekturen auf die Boleros mit ihrer außergewöhnlichen Qualität der Körperverzierung unverkennbar.

Diese Boleros mit fließenden Formen paßten sich allen Morphologien an. Mit einigen Stücken wurde die Schneiderkunst des sechzehnten Jahrhundertes gewürdigt; das skulpturale Werk, das aus Überlagerungen geometrischer Elemente bestand, fügte eine avantgardistische Note hinzu. Beschnittene Spitze ergänzte Tuch und Leder. Die bedruckten Faltenkleider waren lang. Ein Schlangenvogel mit Schuppen oder Federn aus Seidenorganza bildete eine Kombination aus Hose und kurzer Jacke. Ein heiliger Leopard samt gesprenkeltem Felle setzte sich aus Stickereien und geschichteten Tuchen zusammen, wobei ein Faden die Fellflecken so umgab und blockierte, daß sich eine wertvolle Barriere um jede schwarze Kontur des phantastischen Pelzes ergab. Die „wilden“ Farbtöne der Neuen Welt paßten gut zu den „zahmen“ Tönen der Alten Welt: Magenta, Cochenillerot, Papayabraun, Mandarinengelb, Minzgrün, Gipsweiß, Cremeweiß und Nachtschwarz.

In der Ewondo-Sprache Kameruns bezeichnet der Begriff „Mbeuk Idourrou“ eine Person, die ein aufdringliches Kleidungsstück trägt. In vielen Teilen Afrikas wie Nordkamerun, Senegal, Mali, Nigeria und Ghana spiegelt Kleidung den Erfolg und sozialen Status eines Menschen wider; sie steht aber auch für die Gesellschaft als Ganzes sowie für deren Kultur und Geschichte. Der große Boubou als traditionelles Kleidungsstück heißt in der Ewondo-Sprache: „idoutt awoussa“. Der regionalen Unterschiede ungeachtet, vermittelt dieses Kleidungsstück seinem Träger einen erhöhten Status, und zwar kraft seines großen Volumens, der Breite der Schulterpartien nach dem Falten der Zipfel, des einfachen, auf Rechtecken beruhenden Schnittes, der Menge des verwandten Stoffes und der Fülle der gestickten oder gewebten Ornamente. Für den Pariser Modeschöpfer Imane Ayissi ähnelte der Boubou in dieser Hinsicht dem Kimono, wohingegen der eng am Körper liegende „westliche“ Anzug etwas von einer Miederware hatte. In der Kollektion „Mbeuk – Idourrou“ stellte er die scheinbar gegensätzlichen Traditionen einander gegenüber. Bei Textilien dachte er nicht bloß an Kleidung. Die Flaggen der Asafo-Krieger bei den Fante in Ghana oder die Abomey-Tapisserien in Benin gehörten ebenfalls dazu; solche Textilien hatten eine Botschaft, denn sie gaben Kriegerbruderschaften oder örtlichen Vereinigungen eine Stimme, und zwar in Richtung auf Unabhängigkeit. Insofern war die Funktion der Ornamentik nicht nur ästhetisch, sondern auch symbolisch und narrativ. Dies war der Gedanke, welcher den „Slogan“-Kleidern auf der Modenschau in der Veranstaltungsstätte „MONA BISMARCK AMERICAN CENTER“ zugrunde lag.

Das Hôtel Le Marois war in der Couturewoche der Ort mehrerer Modenschauen. Mit der Kollektion „LET FLY“ thematisierte die Pariser Modeschöpferin Armine Ohanyan aufs neue den Natur- und Umweltschutz. Für sie war nichts auf dieser Welt statisch; jede Bewegung bedeutete Fortschritt und Veränderung. Die Reaktion des Menschen auf die mit flatternden Flügeln fliegenden Lebewesen war die Erfindung des Flugzeuges gewesen. Der Gegensatz zwischen Natur und menschlicher Erfindung spiegelte sich in der Kollektion an der Bearbeitung natürlicher Materialien wie des Seidenchiffons, des Seidenorganzas, der Seidenduchesse und der Baumwolle mit Handfalten und Laserschnitten wider. Mit der Verwendung recycelter Kunststoffe wandte sich Armine Ohanyan ausdrücklich gegen die Umweltverschmutzung. Mit einer Schicht Weißgoldes überzogen, sah der Kunststoff edel aus. Bei der urbanen Kollektion „BLACK SNOW & WHITE STORM“ der Modeschöpferin Adeline Ziliox ging es um Verwüstung, Klimawandel und Tierschutz. Im Sinne des „Slow Fashion“ lief sie auf Entschleunigung hinaus. Die bestickten Kleider, insbesondere gleichsam wegschmelzende Eisbergkleider, bestanden aus recycelten Materialien oder aus Materialien, die aus früheren Kollektionen stammten. Reines Weiß erinnerte Adeline Ziliox obendrein des Knirschens ihrer Schritte im Schnee.

Die am 1. Juli 2019 gezeigte Kollektion des Modeschöpfers Aleem Yusuf bewegte sich unter dem Motto „NOMADE“ zwischen seiner Heimat Pakistan und Wahlheimat Australien. Wie ein Puzzle setzten sich alle Elemente beziehungsweise Teile zu einer Kollektion zusammen. Lurex-Mischungen traten neben Dupionseide, Seidensatin, Seidentaft, Seidenorganza und knitterigen Musselin. Spitze aus dem französischen Hause „Sophie Hallette“ kam noch hinzu. Tüll, Rüschen, Raffungen und Schulterpolster waren eine Anspielung auf Aleem Yusufs Jugend in den 1980er Jahren. Reichhaltige Drapagen und Schrägschnitt im Zusammenwirken mit der Stoffmaserung brachten eine kraftvolle, flache Silhouette hervor. Neben Stickerei dienten Pailletten, Perlen, Glasperlen, „SWAROVSKI“-Kristalle und Straußenfedern zur Ausschmückung. Alles erschien als „luxuriöse Kakophonie“. Die Farbpalette stand ebenfalls im Zusammenhange mit Aleem Yusufs Lebensweg. Gelb für Kurkuma und Purpur für die Basare Pakistans zeugten von seinen Kindheitserlebnissen. Die Zeit als Erwachsener in Australien gab der Kontrast zwischen den Blautönen des Ozeanes und den Rottönen des Wüstensandes wieder. Übrigens konnte man Mannequins nicht nur auf den Hinterbühnen abseits der Laufstege, sondern auch bei Feiern begegnen. Nach der Modenschau der Marke „Redemption“ verbrachte Walerija Kaufman alias Valery Kaufman die Nacht vom 30. Juni 2019 zum 1. Juli 2019 im Pavillon Ledoyen damit, ausgelassen Tischfußball mit den Modeschöpfern zu spielen.

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