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Elisabetta Franchi, Jackie Kennedy und das Wintermärchen

Die Mode zwischen Sünde und Wiedergeburt

Sei eine Diva! – das Mannequin Anastasia Lupey vor der Modenschau „ELISABETTA FRANCHI“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 9. Mai 2019
Nachdem in der vorletzten Saison die 1970er Jahre das Thema gewesen waren, ging es bei der Modeschöpferin Elisabetta Franchi aus Granarolo dell’Emilia nahe Bologna diesmal um die 1960er Jahre. Die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2019/2020 widmete sie der amerikanischen Journalistin, Verlagslektorin und „First Lady“ Jacqueline Lee Bouvier Kennedy Onassis, wobei sie sich vorstellte, mit Jackie Kennedy einen Ausflug ins All zu machen. Ohnehin war ihr klar, daß es ohne Vergangenheit keine Zukunft gab.

Unter dem Motto „Retro Future“ war in Anspielung auf die Uniformen von Raumfahrern cremeweißes Polyvinylchlorid (PVC) der Stoff hautenger Leibchen, Beinlinge und Jumpsuits und auch der Stoff von Cuissardestiefeln. Silbergraue Epauletten samt überlangen Kantillen unter anderem an einem reinweißen Blazer oder bodenlangen Kleide samt lanzettförmigem Brustausschnitte setzten diese Anspielung fort. Mit mehrfarbigen Texturen überarbeiteter Tweed gab das Farbenspiel der Galaxis wieder. Die vielen Damenkostüme aus Tweed waren gewiß eine Hommage an die Pariser Modeschöpferin Gabrielle „Coco“ Chanel. Steine zierten ein solches Stück, was sich Elisabetta Franchi als galaktische Explosion ausmalte. Eine Bezugnahme auf das Konzept „mod chic“ des Pariser Modeschöpfers Pierre Cardin blieb daneben nicht aus. Das Markenlogo zog sich als kettenartiger Jacquarddruck über manches Kleidungsstück. An einem schwarzen Damenkostüme war dieses Muster beispielsweise melonengelb wie die Knöpfe sowie Tressen an Ärmelkanten, Jackentaschen und Rockkante, wozu eine papageiengrüne Strumpfhose getragen wurde. Ein cremeweißer, langer Blazer hatte hingegen wenige schokoladenbraune Zierstreifen.

Schwarz, Mohnrot, Scharlachrot, Karmesinrot, Fuchsienrot, Sandbraun, Flaschengrün, Olivgrün, Froschgrün und Himmelblau waren noch wesentliche Farbtöne. Beine und Füße bedeckten vornehmlich Stulpenstiefel. Zur Bedeckung des Kopfes diente ein Hybrid aus Tropenhelme und Reitkappe. Mit den Worten aus dem Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ des deutschen Dichters, Schriftstellers und Journalisten Christian Johann Heinrich Heine aus dem Jahre 1844 ließ sich anmerken: „Ja, ja, der Helm gefällt mir, er zeugt / Vom allerhöchsten Witze! / Ein königlicher Einfall war’s! / Es fehlt nicht die Pointe, die Spitze!“ Güldene Kugelohrringe vervollständigten die Kollektion, welche Elisabetta Franchi am 23. Februar 2019 in einem Zelte im Hofe der Militärschule Teulié in Mailand präsentierte. Zur Einstimmung der Mannequins auf die Modenschau hingen übrigens Zettel mit den Aufschriften „OUR PAST IS OUR FUTURE“, „ELISABETTA CHOOSES YOU!“, „FLY ME TO THE MOON“, „DON’T RUN“, „BE GORGEOUS“ und „BE A DIVA“ an den Wänden der Hinterbühne. Schon bei der Probe stellte das Lied „It’s A Sin“ des britischen Electropop-Duos „Pet Shop Boys“ aus dem Jahre 1987 sicher, daß die Schau exzellent sein werde, wenngleich es hieß: „Wenn ich auf mein Leben zurückblicke, geschieht es immer mit einem Gefühle der Schande; ich bin immer der Schuldige gewesen.“

Im Palazzo Reale zeigte der Mailänder Modeschöpfer Gabriele Colangelo eine Kollektion, deren Thema der spürbare Kontrast zwischen verschiedenen Fasern war. Den Gedanken der „Ink and Bleach“‑Technik, wo die herkömmliche Bildwerdung dadurch umgekehrt wurde, daß eher Licht als Schatten hinzugefügt wurde, so daß dynamische Lichteffekte aus der Dunkelheit entstanden, griff er dafür auf. Grünstichiger dunkelgrauer Baumwollsamt näherte sich dermaßen einem Jacquardgewebe an, daß sich sein voller und gleichmäßiger Flor ohne Unterbrechung über die ganze, abstrakt gemusterte Fläche erstreckte, was einen Blick auf den Baumwollgrund ermöglichte. Sonnengelber Crêpe Georgette hatte dank Devoréverfahren einen transparenten Grund, worauf sich infolge Korrosion zweifarbig getönte, dreidimensionale Flecken in Blumengestalt zeigten. Natürlich weiße Devoréseide, stellenweise nachtblau mit himmelblauen Sprenkeln, enthielt einen abgesetzten Rahmendruck. Viskosekrepp befreite sich aus totaler Dunkelheit, indem er zusehends ausblich.

Der Materialkontrast ging mit einem Kontraste von Gewichten einher. Doppelte Wolle mit Karomuster war der Stoff für taillierte Mäntel samt leicht abgerundeter Schulterpartie. Bei übergroßen Hemdjacken handelte es sich um geschliffenen Baumwolltwill. Solcher Baumwolltwill guckte zusammen mit leichten Falten an Wickelröcken aus Gabardine hervor und paarte sich mit runden Laken aus zerknittertem Kreppe an fließenden Kleidern. Blusen und Hosen bestanden aus honiggelbem, karamellbraunem oder eisweißem weichem Nappaleder. Das gebleichte oder krickentengrüne Nerzfell für ungefütterte Paletots stammte vom finnischen Auktionshause „sagafurs“. Die lange und lockere Silhouette wurde manchmal von einer leichten Drapage gewellt oder von mit Metallringen überzogenem Leder gebändigt. Gerippte Wolle brachte an der Taillenpartie überproportionierter Strickstücke vertikale Linien hervor. Eine quadratische Pflanze schmückte als Motiv kniehohe Stiefel samt kontrastfarbigem Absatze, wohingegen Sandalen aus geflochtenen Streifen den Fuß bloßlegten. An übergroßen Handtaschen fanden sich glattes Leder und farbiges Lammfell zusammen.

Vielseitig, elegant, zeitlos und dennoch zeitgemäß war die Kollektion der Mailänder Marke „PIAZZA SEMPIONE“. Da den gelungenen Spagat zwischen rigoroser Männlichkeit und moderner Weiblichkeit für Stefano Citron und Federico Piaggi als kreative Leiter kein Mensch besser als die britischen Schauspielerin Tessa Charlotte Rampling mit ihrem magnetischen androgynen Charme verkörperte, kam sie als Muse für einen schicken und nonkonformistischen Stil in Betracht. Einfache klassische Linien führten zu praktischer Eleganz. Herrenstoffe wie Wolle in Fürst‑von‑Wales-Musterung, in Hahnentrittmusterung oder mit Nadelstreifen wirkten milder dank ungewöhnlicher Farben, nämlich Fliegerblau, Azurblau, Orange und Rot. Militärisch beeinflußte Karomuster paarten sich mit kontrastierenden unregelmäßigen Stoffdrucken oder mit Drucken in Gestalt abstrakter Blumen. Zinnpailletten auf herber Wolle mit zierlichen Karos waren neben Punkten und Flocken auf sportlichem Moleskin zu sehen. Ein wenig Exzentrik strahlte ein gerade geschnittener Blazer samt genieteten Revers, der zu einem Hosenanzuge gehörte, aus. Hosen waren entweder weit und ausgestellt oder kurz und bauchfrei. Mäntel aus doppelseitiger Wolle erschienen im minimalistischen Flair der 1990er Jahre. Twist und Wollfilz waren die Stoffe übergroßer Cabanjacken samt breiten Revers und großen Taschen. Die Modeinstallation im Palazzo Visconti beinhaltete auch eine Filmvorführung. Der dreiminütige Kurzfilm „Chasing Light“ der Mailänder Photographin und Filmregisseurin Chiara Battistini zeigte die Kollektion zusätzlich in dem vom Mailänder Gestalter Osvaldo Borsani in den 1950er Jahren gestalteten Interieur seines Hauses in Varedo; für die dargestellte Wiedergeburt galt des Phönix’ Motto: „Nach dem Tode werde ich, vom Lichte geführt, auferstehen.“

Die chinesische Modeschöpferin Huizhou Zhao, der Frauenrechte und der Schutz der ethnischen Minderheiten in China sehr wichtig waren, schätzte nach einem zweijährigen Studium am Polytechnikum Mailand die Klarheit italienischen Dessins in seinem raffinierten Minimalismus. Nach der Devise „Tradition und Innovation. Bau und Rückbau“ konzentrierte sie sich, vom linearen Stile und von vereinfachten Formen ausgehend, auf Details als Wahrzeichen alter chinesischer Tradition. Die am 24. Februar 2019 im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci vorgestellte Kollektion veranschaulichte, wie Architektur den Menschen schützte, Kunst den Geist nährte und Mode ein Experiment am Körper war. Auf die Stoffzusammenstellungen kam es an. Lichtdurchlässige Seide überlagerte Kaschmirwolle in flüchtigen Plissees; hinzu kam Alpakawolle. Elfenbeinweiße technische Wolle traf bei weiblichen Asymmetrien auf kaum fühlbaren Seidenorganza. Schimmernder Samt war fließfähig. Die Farbpalette umfaßte Milchweiß, Amaranthrot, Ahornbraun, Karamellbraun, Kamelbraun, Maulwurfsbraun, Sepiabraun, Mastixgelb, Lindgrün, Schimmelgrün, Silber und Gold. Zur Auschmückung dienten glänzende Pailletten und figurative Stickerei mit ausgeprägter Kühnheit. Juwelen zierten darüber hinaus Knöpfe, wemgegenüber kleine Metallteile als juwelenartiger Verschluß fungierten. Neben bestickten Loafer an den Füßen und Hüten auf dem Kopfe waren Halsketten, Broschen und Ohrringe sowie Handtaschen die passenden Accessoires.

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