MODE UND KULTUR

Paris als Verbotene Stadt

Die Mode und das Karma

Tschechisch-slowakische Annäherung – die Mannequins Magdaléna Havlíčková und Natalia Trnková vor der Modenschau „Guo Pei“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 7. Februar 2019
Von Chang’e, der Göttin des Mondes, im Mondpalaste bis zu den Feen im Drachenpalaste bildet die Mythologie des Fernen Ostens eine lange Geschichte. Im fernöstlichen Volkstume war der Palast nicht nur eine Wohnstätte der Herrscherfamilie und des Hofstaates, sondern auch ein spiritueller Ruheraum gewesen für diejenigen, die das Tao kultiviert und somit einen Zustand der Glückseligkeit erreicht hatten, was die natürliche Ordnung des Universums bestätigt hatte. Der Palast war zudem die Heimat der Götter und zugleich ein Paradies auf Erden gewesen. In der fünftausendjährigen chinesischen Geschichte hatte er außerdem als Bühne für zeitlose Legenden und menschliche Dramen gedient. Da lag es für die chinesische Modeschöpferin Guo Pei nahe, die Couturekollektion für den Frühling und Sommer 2019 in einem modernen Palaste, und zwar dem Palais de Tokyo in Paris, zu präsentieren.

Am 23. Januar 2019 erzählte Guo Pei die Geschichten anhand der Kollektion neu, wobei sie eine Brücke nicht nur zwischen Himmel und Erde, sondern auch zwischen Westen und Osten baute. Unter dem Motto „East Palace“ brachte sie westliche Stilelemente und zeitgenössische technische Innovationen in die traditionelle chinesische Handwerkskunst ein. Von jeher hatte der kaiserliche Hof in China als Garant der höchsten Standards die besten Handwerker angezogen. Eingedenk der über Generationen solcher Handwerker hinweg verfeinerten Stickereitechniken setzte Guo Pei auf Goldverdrahtung sowie netzförmige und dreidimensional wulstige Stickerei für erfrischende moderne Effekte. Als Sinnbild fernöstlicher Ästhetik war der Drache das Hauptmotiv der Kollektion. Die fünf Farben der Drachen in der schlanken Form der Han‑Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.), nämlich Schwarz, Grün, Gold, Silber und Rot, standen für die Idee der fünfen Elemente sowie für die Begriffe „Yin“ und „Yang“. Daneben griff Guo Pei all die volkstümlichen Tiergestalten auf und machte diese Glücksbringer zu Symbolen der Zukunft, wodurch sie die Grenze zwischen Mythologie und Realität aufhob. Mit buntem, metallischem Lackleder verwobener Seidentwill traf auf Stoffdrucke und Pailletten in Mosaikmusterung. Frei fließendes, himmelblaues Tuch und die Sonne widerspiegelndes, pures Gold drückten die Vitalität der Natur aus, während texturierte Tuche lebhaft schillerten.

Ein anderer Höhepunkt der Kollektion war die Kunst der Perlmutteinlage aus Japan. Ursprünglich war diese Technik in China zur Zeit der Tang‑Dynastie (618–907) zum Ersatze goldener und silberner Seidenfolie entstanden; die Handwerker hatten Perlmutt zu Streifen in einer Dicke von 0,1 mm bis 0,2 mm zerkleinert und dann selbige zu Fäden zerschnitten, um sie letztlich mit Seide verweben zu lassen. Bei der Kollektion galt die besondere Aufmerksamkeit den Details, beispielsweise dem verführerischen Schillern des Perlmuttes auf Seidenbrokate. Die meisten Schuhe bestanden aus den gleichen Materialien wie diejenigen der Kleider, Stickerei und Perlmutteinlagen inbegriffen. Der kaiserliche Drache als Motiv an manchen Absätzen entstammte den prächtigen bemalten und geschnitzten Säulen der kaiserlichen Paläste. Die auf strukturierte Absätze in Goldfarbe geprägten Drachen und welligen Grashalme gingen auf antike chinesische Gärten und die Füße klassischer chinesischer Möbelstücke zurück. Als Metapher für Himmel und Erde, genau gesagt als Himmelspfeiler, bildeten die roten Säulen in der Halle der höchsten Harmonie in Pekings Verbotener Stadt die Kulisse der Modenschau in Paris. So verwandelte Guo Pei – jede Modenschau bedeutete ihr eine spirituelle Reise – das Palais de Tokyo für einen Moment in einen fernöstlichen Palast, der als Kaiserhof in imperialer Grandeur und als Kultstätte der Philosophie mit taoistischem Mysterium erstrahlte.

Auch bei Franck Sorbier gingen Orient und Okzident eine Verbinung ein. Für den für theatralische Modevorführungen bekannten Pariser Modeschöpfer war alles ein Poem. Samurais, Sumoringer und Kawaii‑Lolitas beim dekadenten Treiben in Harajuku kamen ihm in den Sinn. Mit der Kollektion ließ er das 19. Jahrhundert wiederaufleben. Inspirationsquelle waren die in Japan zur Edo‑Zeit beziehungsweise während des Tokugawa-Schogunates (1603–1868), also in einer Zeit des Friedens und der wirtschaftlichen Blüte, entstandenen Holzschnitte und „Ukiyo‑e“‑Drucke zur Darstellung alltäglicher Vergnügungen. Jedes Modell der Kollektion trug den Namen eines Meisters jener graphischen Kunst. Ferner standen Schwarz für die lange Verschlossenheit der japanischen Inseln dem Reste der Welt gegenüber und Honiggelb für die Sonne als Symbol des göttlichen Kaisers. Der Obi, ein schlichter Stoffgürtel zum Schließen eines Kimonos, war jedoch das zentrale Element der Kollektion. Bereits für die Kollektion „Les Amants Célestes“ für den Frühling und Sommer 2016 hatte Franck Sorbier ein antikes Stück vom Nationalmuseum der asiatischen Künste alias Museum Guimet in Paris bekommen, um es an einer Bustierrobe zu verwenden. Auf der Bühne des Theatersaales im Museumsgebäude ließ Franck Sorbier die neue Kollektion von Tänzern vorführen.

Die Modelle „Kiyonobu“ und „Moronobu“ beinhalteten eine Jacke aus Strohe und natürlichem Raphiabaste über einem Hofkimono aus seidenem Damastbrokate, wobei ein von der Declercq Passementiers SAS in Paris stammendes Posament in Gestalt eines Lebensbaumes zur Ausschmückung diente. Der gleiche Lebensbaum befand sich an einem solchen Kimono, der beim Modelle „Eisui“ über einem Rocke mit hoher Taillenpartie aus Stoffbahnen nebst einem Lamellengürtel aus Seidensatinjacquard mit einem Sonnenmotive und beim Modelle „Toyokuni“ über einer Bustierrobe mit Lamellen aus Seidensatinjacquard mit einem Sonnenmotive zu tragen war. Beim Modelle „Kunichika“ paßten wegen des honiggelben Farbtones ein kurzer Kimono aus mit Seidenorganza betreßter Obiseide und ein Hakama aus Seidenorganza zueinander. Eine Robe aus schwarzer Obiseidenvoile und schwarzem Organdy hatte beim Modelle „Toyonobu“ eine Schulterpartie in Samuraiart bei freien Stoffbahnen vorn, hinten und seitlich sowie beim Modelle „Sukenobu“ plissierte Einsätze. Beim Modelle „Utamaro“ hatte eine mit Rüschen aus schwarzem Organza betreßte Robe aus Obiseide ein Rückencape mit „Sumo“‑Fransen. Beim Modelle „Eishi“ hingen Stoffbahnen an der Schulterpartie einer Robe aus schwarzer und goldener Obiseide. Mit Seidenorganza bedeckte Obiseide in honiggelben Bahnen kennzeichnete das Modell „Kunisada“. Das Modell „Masanobu“ war eine Robe mit mehreren aufgepickten Lamellen aus honiggelbem Seidenorganza zu einer schmetterlingsförmigen Schürze aus Obiseide. Das Modell „Harunobu“ war eine sowohl mit einer Einlegearbeit aus Obiseide als auch mit Rüschen betreßte, quadratisch dekolletierte, puppenhafte Volantrobe aus schwarzem Seidenorganza samt breiten Trägern.

Eine Bustierrobe aus 24karätiger Obiseide und ein Unterrock aus einem natürlich weißen Seidenorganzastreifen machten die Modelle „Kaigetsudo Ando“ und „Kaigetsudo Anchi“ aus. Minilänge galt beim Modelle „Eiri“ für eine Bustierrobe, wo Obiseide mit schillernden, fliegenden Störchen und Obiseide mit Pfauen aus Silberbrokate, durch seidig bestickten Seidenorganza angehoben, einander begegneten. Beim Modelle „Katsukawa Shun’ei“ kamen eine drapierte Bustierrobe aus perlmuttgrauer Obiseide in Prinzessinnenlinie sowie ein Rock und ein Cape aus weißem, zerfasertem Seidenorganza zusammen. Beim Modelle „Kiyonaga“ gesellte sich eine Faltencapeline aus floraler Obiseide samt befransten Ärmeln zu einer Tuturobe aus schwarzem Seidenorganza. Beim Modelle „Toshinobu“ zierte freies Blattwerk aus schwarzem Seidenorganza einen Rock unter einem drapiertem Bustier aus Obiseide mit einem beschnittenen Vogel als Motive. Beim Modelle „Jakuchu“ stak ein puppenhafter Volantrock unter einer an der Taille zwickenden Jacke samt rechteckigen Kimonoärmeln aus mit schwarzem Seidenorganza bedeckter Obiseide. Beim Modelle „Koryusai“ zierten beschnittene Pfauenfedern eine mittels Blattwerkes aus schwarzem Organdy pikierte Korsage aus Organdy und bestickter Obiseide über einer langen Hose aus schwarzem Seidenorganza. Beim Modelle „Kuniyoshi“ gehörte ein puppenhafter Unterrock aus natürlich weißem Seidenorganza zu einer Korsettcapeline aus Obiseide mit Pfauenfeder. Das Modell „Toyoharu“ vereinte eine Wickelbluse aus honiggelbem Seidenorganza und einen Rock aus mit Seidenorganza bedeckter, gleichfarbiger Obiseide, wobei der bienenstichartig gefältete Rock im Umfange eines Mieders an der Rückseite eine kegelförmige, wie eine Turnüre wirkende Einlegearbeit aufwies.

In der Kollektion „Opera Prima“ der eigenen Marke „YOLANCRIS“ vereinte die Modeschöpferin Yolanda Pérez alle künstlerischen Wurzeln ihrer Heimatstadt Barcelona. Die bildhafte Welt, die allgegenwärtige dekorative Kunst, das für den Modernismus als Sonderform des katalanischen Jugendstiles typische Trencadís‑Mosaik und die prägnanten Hausfassaden waren in jedem Kleidungsstücke präsent. Die Farben des in Barcelona stehenden Konzerthauses „Palau de la Música Catalana“ aus der Hand des katalanischen Architekten Lluís Domènech i Montaner, eines der wichtigsten Repräsentanten des Modernismus, sowie organische Motive und Asymmetrie kennzeichneten die Kollektion. Gleichwohl herrschte Fleischrosa als Farbton vor. Steife Stoffe sorgten für Volumen. Ein Stückwerk aus „unmöglichen“ Materialien kam hinzu. Jedes Modell bedeutete einen neuen Herzschlag bei der Vorführung auf dem Laufstege im Hôtel Le Marois. Die Hüte hatten die fürs Huthaus „TOLENTINO“ in Sevilla tätigen Hutmacher Manuel Carrión und Felipe Vivas eigens für die Modenschau entworfen. Die spanische Modeschöpferin Ana Marttin steuerte die Schuhe bei. Die Juwelen stammten vom Schmuckhause „MASRIERA“ in Barcelona; das Streben nach einer perfekten Balance zwischen Klassik und Zeitgenossenschaft sowie zwischen Tradition und Moderne im Rahmen der katalanischen Schmuckkunst, die symbolische Welt des Jugendstiles inbegriffen, machte diese Juwelen zu guten Botschaftern der Kleidungsstücke. Alles in allem war die Kollektion ein Lob des Jugendstiles.

Eine enthemmte Bekleidungsindustrie, die mit ihrer Massenproduktion den hinter der Telekommunikationsindustrie zweithöchsten Abfallberg hatte entstehen lassen, besorgte den japanischen Modeschöpfer Yuima Nakazato. Angesichts der Umweltverschmutzung bedurfte es einer Abhilfe. Im Sinne der Nachhaltigkeit verlängerte Yuima Nakazato die Lebenszeit eines Kleidungsstückes, um es von mehreren Generationen tragen zu lassen. Digitale Technologie wie der Laserschnitt hatte nicht nur zur Beschleunigung des Fertigungsvorganges, sondern auch zur Präzisierung gedient, weswegen jedes Kleidungsstück nicht den Couturecharakter verloren hatte, zumal da auf hergebrachtes Handwerk nicht verzichtet worden war; es war auf eine fortschrittliche Couturemanufaktur hinausgelaufen. Um die Herstellung individueller beziehungsweise personifizierter, einzigartiger Kleidungsstücke für jedermann zu einem erträglichen Kaufpreise dennoch zu vereinfachen, hatte Yuima Nakazato die Methode „Unit Constructed Textiles“ entwickelt, womit er den gesamten Fertigungsvorgang vom Zwange zu Nadel und Faden befreit hatte. Als Materialien eigneten sich Baumwolle, Tüll und veganes Leder. Inspirationsquelle waren die japanische und französische Kultur. Eine mechanische Struktur wie bei Atomen, eine natürliche Struktur wie bei Schneeflocken und eine rechteckige Form wie bei Kimonos prägten die am 24. Januar 2019 im Hotel „HOTEL NATIONAL DES ARTS ET METIERS“ gezeigte, achtteilige Kollektion „LIFE“. In deren Mittelpunkte stand das Hemd als Modell „TYPE‑1“. Mal fungierte es zusammen mit der großmütterlichen Hochzeitsunterwäsche als Brautkleid, mal taugte es für eine Kombination mit einem Kleide. In der Form eines T‑Leibchens bestand es aus schrottreifem indigoblauem Stoffe. Gerippter Stoff machte das Hemd hingegen zu einem Bühnenkostüme für Tänzer. Ein Kind konnte das Hemd entweder allein als Kleid tragen oder nach der Devise „Daddy Rocks“ mit einer Jacke der Eltern kombinieren oder mit seinen Lieblingskuscheltieren bestücken.

Am 23. Januar 2019 begab sich die französische Modeschöpferin Ariane Chaumeil in der Veranstaltungsstätte „LA MAISON DES CENTRALIENS“ auf eine spirituelle Reise, denn einst hatte der indische Religionsstifter Siddhartha Gautama alias Buddha erklärt: „Zeit und Umstände können sich jederzeit ändern. Entwerte oder verletze niemand in deinem Leben! Du magst diesmal mächtig sein, aber denke daran: die Zeit ist mächtiger als du. Dann sei gut und tue das Gute!“ Nach der buddhistischen Lehre bestimmen Erfahrungen im vergangenen Leben (Samskara) die Wünsche im neuen Leben, so daß die Abfolge der Wünsche bei allen Entscheidungen eine unbewußte logische Kette, also einen Lebenszwang (Vasana), bedingt. Das Gesetz des Karmas lautete mit Ariane Chaumeils Worten: „Du bekommst heraus, was du hineingesteckt hast.“ Nach ihrer Ansicht brachte die Reinkarnation am Ende einen völlig erwachten Avatar hervor. Lotusblume, Kirschblüte und Zuckerrohr waren die Hauptmotive der farbenfrohen, süß-sauren Schmuckkollektion „KARMA“.

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