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Bühnentanz in Berlin – zweiter Teil

Das Jahr 2011 in der Retrospektive

Der große Bruder betrachtet dich – die Ballettaufführung „OZ – THE WONDERFUL WIZARD“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 1. Januar 2019
Am 12. März 2011 erlebte das Publikum der Komischen Oper Berlin die Uraufführung des Tanzstückes „OZ – THE WONDERFUL WIZARD“, welches auf das mittlerweile klassische Kinderbuch „The Wonderful Wizard of Oz“ („Der Zauberer von Oz“) des amerikanischen Schriftstellers Lyman Frank Baum aus dem Jahre 1900 zurückging und mit musikalischen Stücken des russischen Komponisten Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch angereichert war.

In der die ganze Familie ansprechenden Geschichte ging es um die kleine Dorothy, die eine abenteuerliche Reise mit eigenartigen Gefährten durch das wundersame Land von Oz unternahm; Ziel war das Domizil des Zauberers von Oz, von dem sich die Gefährten erhofften, die körperlichen oder geistigen Eigenschaften, die ihnen noch fehlten, zu erhalten. So brillierte als Dorothy aufs Neue die Erste Solotänzerin Polina Semionova, der Stern des Berliner Balletthimmels. Daneben überzeugten der Demisolotänzer Federico Spalitta als Vogelscheuche ohne Verstand, der Demisolotänzer Artur Lill als Blechmann ohne Herz und der Demisolotänzer Vladislav Marinov als Löwe ohne Mut durch ihr einfühlsames Spiel das Publikum. Der Intendant des Staatsballettes Berlin Vladimir Malakhov war obendrein als Schwindler, nämlich als Zauberer ohne Zauberkräfte, ein Meister der Gestik und Mimik. Nebenher brachte die Geschichte die Erkenntnis: der Weg ist das Ziel. Die Choreographie und Inszenierung verantwortete übrigens der freischaffende Choreograph und Regisseur Giorgio Madia aus Italien, der für die nächste Spielzeit des Staatsballettes Berlin eine weitere Uraufführung vorbereiten sollte.

Der Zauberer von Oz und der Glöckner von Notre-Dame an der Spree
Am 9. April 2011 war in der Deutschen Oper Berlin die Premierenaufführung des Ballettes „LA ESMERALDA“ zu sehen. Als Vorlage für dieses Handlungsballett des italienischen Komponisten Cesare Pugni und des französischen Librettisten Jules Perrot aus dem Jahre 1844 hatte der Roman „Notre-Dame de Paris“ („Der Glöckner von Notre-Dame“) des französischen Schriftstellers Victor Hugo – eine Beschreibung der spätmittelalterlichen französischen Gesellschaft – aus dem Jahre 1831 gedient. Das Pariser Zigeunermädchen Esmeralda war in den Offizier Phoebus de Châteaupers verliebt, während der Dompropst Claude Frollo Esmeralda nachstellte, aber von ihr abgewiesen wurde. Auch Quasimodo, der Glöckner der Kathedrale, war von Esmeraldas Wesen angetan. In rasender Eifersucht erstach Claude Frollo den Geliebten und übergab nach erneuter Zurückweisung Esmeralda als vermeintliche Täterin der Obrigkeit. Zu guter Letzt klärte der nur verwundete Phoebus die Schurkerei auf und Esmeralda kam anders als in der Romanvorlage frei.

Als Rekonstruktion vieler überlieferter und erhaltener Elemente – historisierende Kostüme und Bühnenbilder nach Art der Entstehungszeit – bot die aktuelle Inszenierung der Choreographen Yuri Burlaka und Vasily Medvedev in Anlehnung an den berühmten Choreographen Marius Petipa einen erkenntnisreichen und optisch angenehmen Blick in die Ballettgeschichte. Zur Freude des Kunstgenusses trugen die hervorragenden tänzerischen Leistungen besonders der Ersten Solotänzerin Iana Salenko als Esmeralda und des Ersten Solotänzers Mikhail Kaniskin als Phoebus bei. Da sich die Erste Solotänzerin Beatrice Knop beim Eintanzen verletzt hatte, kam statt ihrer die Solotänzerin Elena Pris, die eigentlich als Fleur de Lys’ Freundin Béranger vorgesehen war, als Fleur de Lys auf die Bühne. Dies führte zu weiteren Umbesetzungen, wobei letztlich die Demisolotänzerin Sarah Mestrovic gleichsam aus dem Publikum geholt wurde. Einmal mehr erwies sich das Ensemble des Staatsballettes Berlin als Compagnie der Weltklasse.

Eine lange Nacht für den künstlerischen Bühnentanz
Am 16. April 2011 gab es für sechs Stunden die Gelegenheit, bei der nunmehr dritten Veranstaltung „LANGE NACHT DER OPERN UND THEATER“ unter der Schirmherrschaft des Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit die Vielfältigkeit der Berliner Theaterlandschaft zu erleben. Für die Staatliche Ballettschule Berlin war die Beteiligung eine Premiere. Den Liebhabern des künstlerischen Bühnentanzes bot sie abseits ihres regulären Tages der offenen Tür erstmals ein abwechslungsreiches Programm, nämlich drei Stücke aus dem Repertoire, und stellte nebenbei ihr Schulgebäude nach dem Umbau vor. Das Stück „Die Zukunft beginnt jetzt“, bei dem achtzig Schüler und Studenten tanzten, zeigte zur Musik des französischen Komponisten Maurice Ravel die gesamte Palette der tänzerischen Ausbildung. Das Stück „Chopiana“, als Ballett ohne Handlung (Ballet blanc) „Les Sylphides“ bekannt, war mit seinen Tanzvariationen zur Musik des polnischen Komponisten Frédéric Chopin eine Hommage an die Romantik. Männliche „Tugenden“ wie Ausdauer, Kraft, Kampflust, eitles Posieren und „machohafte“ Muskelproben prägten das Stück „Troy Game“; griechische Tanzformen waren mit virtuosen Bewegungen, die unter anderem von Akrobatik, Aikido und Capoeira inspiriert waren, verbunden. Die künstlerische Gesamtleitung lag in den Händen des Künstlerischen Leiters des Fachbereiches Bühnentanz Prof. Gregor Seyffert.

In der Komischen Oper Berlin gewährte das Staatsballett Berlin den Besuchern einen Einblick in seine Arbeit. Der Intendant des Staatsballettes Berlin und Erste Solotänzer Vladimir Malakhov leitete ein „Training zum Zuschauen“. Danach war ein Ausschnitt der aktuellen Inszenierung des Tanzstückes „OZ – THE WONDERFUL WIZARD“ als „Lecture Demonstration“ mit Erläuterungen der Demisolotänzerin Alessandra Pasquali zu sehen. Hinterher wandte sich Vladimir Malakhov einer neuen Aufgabe zu, indem er die künstlerische Leitung der Benefizveranstaltung „Ballett Helps Japan“ – zugunsten der Opfer der letzten Erdbebenkatastrophe in Japan – am 8. Mai 2011 im Berliner Theater „ADMIRALSPALAST“ übernahm.

Herr Gynt sucht das Glück
Das Staatsballett Berlin präsentierte am 18. November 2011 in der Deutschen Oper Berlin die erste Premierenaufführung der neuen Spielzeit. Das Tanzstück „PEER GYNT“ des scheidenden Ballettdirektors des Opernhauses Zürich Heinz Spörli beruhte auf dem gleichnamigen nordeuropäischen Mythos Henrik Ibsens. Heinz Spörlis Konzeption enthielt musikalische Werke Edvard Griegs wie auch Werke der zeitgenössischen Komponisten Brett Dean und Mark-Anthony Turnage. Der in ärmlichen Verhältnissen bei seiner Mutter lebende Tunichtgut Peer Gynt, sowohl vom Intendanten und Ersten Solotänzer Vladimir Malakhov als auch vom Schauspieler Sebastian Hülk nebeneinander verkörpert, erging sich in Prahlereien und Tagträumen und wurde auf seiner abenteuerlichen Lebensreise bis ans Ende der Welt getrieben. Das rastlose Bemühen um Selbstfindung, gleichviel ob in den kalten norwegischen Bergen oder in der heißen afrikanischen Wüste, blieb erfolglos, solange er nicht in seine Heimat zurückkehrte.

Erst einmal entführte Peer Gynt Ingrid, die von ihm sitzengelassene Tochter eines reichen Bauern, von ihrer Hochzeitsfeier in die unwirtliche Bergwelt, obwohl er Solveig liebte. Nachdem er Ingrid, ihrer überdrüssig, weggejagt hatte, traf er auf drei liebestolle Säterinnen, die kokette Grüngekleidete, den Bergkönig, dessen verführerische Tochter und etliche Trolle. Ihrem Unwesen entkommen, landete Peer Gynt an der marokkanischen Küste und wollte als nun reicher Mann auch noch Kaiser werden. Während der Größenwahnsinnige den Reizen der einheimischen Schönheit Anita erlag, feierten ihn falsche Freunde als Propheten und entwenden sein Hab und Gut. Immerhin folgte die Kaiserkrönung, wenngleich in einer ägyptischen Irrenanstalt. In der Heimat wollte ihn der Knopfgießer einschmelzen und zu einem besseren Menschen umformen. Peer Gynt erkannte bitter, in seinem Leben nur Rollen gespielt zu haben. Solveig rettete ihn, denn in ihrer Liebe war er stets er selbst gewesen. Tänzer, Sprecher und Sänger begeisterten das Publikum und erhielten dafür reichlich Applaus, der nicht minder den Kostümen und Bühnenbildern galt.

Berlin leuchtet
Im Theater „FRIEDRICHSTADT-PALAST“ begann am 24. November 2011 mit der Premierenaufführung der Revue „berlin ERLEUCHTET – die herzerwärmende Weihnachtsshow“ die Vorweihnachtszeit. Noch vor der Aufführung erfuhr das Publikum die neuesten Absatzzahlen; es waren schon fast 95 Prozent der Eintrittskarten für alle Aufführungen bis Weihnachten durch Bezahlung oder Reservierung vergeben worden. In der Schau ging es um den artigen Berliner Jungen Paul, der sich zu Hause im gemütlichen Ohrensessel nicht mit Weihnachtsfeiertagen ohne Schnee abfinden wollte. Ihm kam ein vorlauter Schneehase mit echter Berliner Schnauze – zum Leben erweckt von dem von „Käpt’n Blaubär“ her bekannten Puppenspieler, Sprecher und Sänger Bodo Schulte – zu Hilfe. Gemeinsam begaben sie sich auf die wundersame Suche nach der „weißen Weihnacht“. Weihnachtsbäume begannen zu tanzen. Elfen schwebten in riesigen Seifenblasen hoch über der Bühne und glitten über die Köpfe der Zuschauer hinweg. Engel mit übergroßen Tüllflügeln tanzten umher.

Ja wenn Paul etwas älter gewesen wäre, hätte er vielleicht an die engelhaften Laufstegmodelle der berühmten Modenschauen der Dessousmarke „Victoria’s Secret“ gedacht; doch der Junge war ganz und gar von seiner Weihnachtsphantasie eingenommen. Davon brachte ihn auch – fürs Publikum ein Hingucker – die „längste Girlreihe der Welt“ nicht ab. Die männlichen Tänzer ergänzten das zauberhafte Ambiente als marschierende Weihnachtsmänner und Zinnsoldaten. Das „schwarze Schachballett“ vereinte dann das sechzigköpfige Ensemble für einen düsteren Tanz bis zum Erscheinen der Fee, die dafür mit ihrer dreißig Meter langen Schleppe gewisse Zeit unterwegs war. Sie bescherte Paul und dem Hasen zu guter Letzt ein Schneegestöber aus Papierflocken. Das glückliche Ende der Suche mit traditionellen Weihnachtsliedern, immergrünen Weihnachtsschlagern und Eigenkompositionen ließ „… niemand kalt“. Entsprechend warm und herzlich fiel der Applaus des Publikums aus. Die Wohlfühlatmosphäre hielt auf der anschließenden Premierenfeier, auch dank den bezaubernden Tänzerinnen in ihren eleganten Abendkleidern, bis zur zweiten Stunde nach Mitternacht an.

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