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Donatella Versace und die mystische Kraft Medusas

Dadaismus in der Mode

Ein großes Rennen – die Modenschau „VERSACE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 16. November 2018
Medusa, eine Gorgone mit ursprünglich betörender Schönheit, ist ein Ungeheuer mit Schlangenhaaren, Schweinshauern, bronzenen Armen, glühenden Augen, heraushängender Zunge und Schuppenpanzer. Der Anblick läßt jeden Betrachter zu Steine erstarren. Medusas mystische Kraft war das Merkmal einer mächtigen Persönlichkeit. Dies beschränkte sich nicht auf die griechische Mythologie; es galt ebenso für das Mailänder Modehaus „VERSACE“. Die Modeschöpferin Donatella Versace dachte an eine kultivierte und zugleich vielseitige Frau, die niemals ängstlich war, doch sofort beide Augen schloß, um für Mode zu schwärmen. Kühnheit drückte sich in strukturierten Stoffdrucken aus, während sich Makellosigkeit an mühelosen Schichtungen zeigte; immer farbenfroh, deutete die Druck‑auf‑Drucke-Aufmachung einen besonderen, unverwechselbaren Charakter an.

Am 21. September 2018 präsentierte Donatella Versace die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2019 im Palazzo delle Scintille unter dem Motto „THE VERSACE WOMAN OF TODAY“. Die hehre Schneiderkunst hatte eine Hauptrolle. Bei klassischen, bedruckten Anzügen betonten skulptierte Jacken die Taille. In Pythonart bedrucktes Leder oder Seidenduchesse war das Material für Mäntel in Volltonfärbung. Der Smoking erschien in einer neuen Version, und zwar aus glänzendem schwarzem Seidensatin. Anpassung und Ausstellung waren noch nie so wichtig. Bei transparenten, bedruckten Tüllkleidern war die Silhouette dezent, wohingegen bei anderen Kleidungsstücken die Anpassung an die Körperkonturen zu einer hautnahen Silhouette führte; so sah die Trägerin mal verletzlich, mal selbstsicher aus. Die anatomische Form skulpturierte überdies den weiblichen Körper. Das Spiel mit Falten war bedeutsam, was beispielsweise an überall übereinander geschichteten, winzigen Falten erkennbar war. Falten unterstützten auch schwarze Paspeln um die Taillenpartie einer strukturierten Jacke. Schichtung und Drapage, nicht minder bedeutsam, waren oft miteinander verbunden. Drucke, Farben und Texturen lagen übereinander, statt zu kollidieren, wobei figurbetonte, drapierte Tüllkleider über fließenden Stoffen eine sinnliche Seite zeigten. Nach der Devise „Bringe mich überall hin!“ waren die „Kettenreaktions“-Sandaletten bereit für ein nie endendes Abenteuer rund um die Welt. Die auf einen alten Schrankkoffer zurückgehende Handtasche „Conglobo“ mit fluoreszierendem Korpus und Zierjuwelen verkörperte den Globetrottergeist; sie erhielt durch floralen Aufdruck und farbenfrohe Ausschmückungen eine Runderneuerung in Zigeunerart.

Der Dadaismus hatte als künstlerische Bewegung auf der unaufhaltsamen Suche nach einem neuen Sinne des Lebens mit hergebrachten Normen gebrochen; es war eine Revolte gegen „konventionelle“ Kunst gewesen. Christian Alexander Beck, der kreative Leiter des Münchener Modehauses „AIGNER“, hatte die tolle Idee, den Dadaismus zur Inspirationsquelle für die neue Kollektion zu machen. Das Wider das Gewöhnliche unter dem Motto „DADA“ war dann Programm. Sogleich dachte man unweigerlich ans Lied „Da Da Da“ der Band „Trio“ aus dem Jahre 1982 im Zuge der Neuen Deutschen Welle, nämlich an die auf ein musikalisches Minimum reduzierte Schlagerparodie in Anspielung auf den Dadaismus, worin es geheißen hatte: „Was ist los mit dir, mein Schatz – aha?/ Geht es immer nur bergab – aha?/ Geht nur das, was du verstehst – aha?“ Aufs Verständnis für das, was vorgeht, kam es an. Ein Zelt im Hofe der Militärschule Teulié in Mailand war der Ort, wo Christian Alexander Beck gewissermaßen auf Verständnis seitens des Publikums für die Umsetzung seiner Idee hoffte, als er die Kollektion präsentierte. Er wurde nicht enttäuscht. Unter Beibehaltung des unverkennbaren klassischen Stiles wagte Christian Alexander Beck einen großen Schritt nach vorn. Knallige Muster ergänzten klare Dessins. Stoffdrucke mit Trompe‑l’œil-Wirkung blieben in schlichten Formen. Dies zeigte sich vor allem an den bunten Interpretationen des Markenlogos an Handtaschen und sonstigen Accessoires.

Über die bunten, kursiven und fetten Schriftzüge hinaus führte die Vorliebe für Leder bis zur Kleidung. Mäntel, Jacken, Pullover, Kleider, Röcke und Hosen erschienen mit bunten Drucken, sportlichen Blockschriftzügen oder Lederdetails. Die Sportlichkeit der 1990er Jahre und der Chic der 1980er Jahre bildeten als Mischung das Leitmotiv. Eine Vielzahl neuer Farbtöne eröffnete der Kollektion eine neue Dimension. Schrille und grelle Töne wie Cyanblau, Salbeigrün und Zitronengelb gaben den Ton an und gingen einher mit Sommertönen wie Nougatbraun und Wolkenweiß sowie mit Signaltönen wie Hochrot, was gewagte Farbzusammenstellungen ermöglichte. Bei den Handtaschen war die Reihe „Cybill“ von jeher ein fester Bestandteil der Kollektion. Das Modell „Cybill bag Scacchi“ war eine Handtasche samt goldenen Henkeln und mit Schachbrettmuster. Das Modell „Cybill bag Lettra“ fiel im Sinne des Dadaismus mit bunten, verschobenen Buchstaben an der Handtasche auf. Das Modell „Cybill bag Cavallo“ wies mittels eines goldenen Pferdekopfes am Henkel der Handtasche in antiker Färbung auf den Ursprung der Modemarke hin. Das Modell „Alessia“ war eine mittelgroße oder kleine Handtasche aus Feinleder samt steif stehendem Henkel und seitlichen Klippverschlüssen sowie mit „Retro“-Details.

Beim Modelle „Ruby“ hatte die Handtasche in der cyanblauen Version kontrastierende gelbe Rüschen und in der schwarz-weißen Version rote Farbakzente. Das Modell „Greta“ vereinte simplen Chic und minimalistisches Dessin; die trapezförmige Handtasche samt aufwendigen Henkeln und diagonal zusammenlaufenden Verschlüssen an der Vorderseite bot viel Platz. Beim Modelle „Gala“ bildeten das weiche, genarbte Leder, schwarz, burgunderrot und salbeigrün, einerseits und die cyanblauen, signalroten und nougatbraunen Nähte andererseits einen ungewöhnlich deutlichen Kontrast; mit einer eleganten Schnalle aus Leder und Metalldetails war die Handtasche in mittelgroßer, kleiner oder sehr kleiner Version von oben verschließbar. Beim Modelle „Gala Special Edition“ wies die kleine Handtasche zusätzlich an der Vorderseite bunte Stickereien, von glänzendem schwarzem Leder umrahmt, auf. Das Modell „Fiorentina“ kennzeichnete ein „Vintage“-Charme. Schwarz, nougatbraun oder salbeigrün war das genarbte Leder der Handtasche, die wahlweise überall bedruckt war. Golden waren die markentypischen Nieten an der Vorderseite einer schwarzen Handtasche. Daneben gab es noch das Modell „Fiorentina Belt Bag“. Die Reihe „Kaia“ umfaßte mittelgroße und große Handtaschen sowie kleine Umhängetaschen, und zwar schwarz, zederbraun oder tintenblau; als Alternative schmückte der Druck des Markenlogos das schwarze genarbte Leder. Der Dadaismus betraf als Thema letztlich alle Bereiche: Socken mit Markenlogo, Sommerstiefel, mit dem Laser geschnittene hochhackige Pumps und grobe Sneaker samt grellen Laschen sowie Sonnenbrillen, Ketten und Armbänder.

Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Tasten – Weiblichkeit durchdrang alle Sinne. Eine strahlende Weiblichkeit war für den Mailänder Modeschöpfer Antonio Croce der Ausdruck eines starken und unabhängigen Charakters. Bei der Kollektion „Mirabilia“, die auf seiner engen Beziehung zur sizilianischen Landschaft beruhte, drehte sich alles um den guten Geschmack. Von der Mischung aus Natur und Kunst auf der Suche nach Sinnlichkeit ging eine Faszination sondergleichen aus. Eine neue Vorstellung von Eleganz vermittelten dann Rüschen und Faltenbesatz an leichten Kleidern aus floral bedruckter Seide, wozu sich verzierte Lederjacken, taillierte Saharajacken und übergroße Mäntel mit Bikerdetails gesellten. Pure Stoffe und reich verzierte Stoffe trafen einander. Kostbare Texturen erzeugten Reflexionen. Materialien waren Handschuhleder, mit Baumwollgabardine, Baumwolle und Mikadoseide gepaart, Seidenkrepp mit leichtem Chiffon, Seiden-Fil‑coupé, bedruckter Tüll, dreidimensionale und bedruckte Spitze sowie Viskose.

Die Natur bestimmte die Farbpalette. Weizengold, das die sonnigen Weiten Siziliens symbolisierte, verband bei der Stickerei Schwarz und Weiß. Grün und Beige deuteten die Felder, das Erdreich und den Meeresboden an. Mohnrot bei den ganzflächigen Stoffdrucken ließ Kleider, Hemdblusen und Trenchcoats sozusagen erblühen. Die Veranstaltung war etwas für alle Sinne. Neben den sichtbaren Kleidungsstücken waren dank einer brandneuen Verbindung die exquisiten Duftwässer des Modehauses zu riechen und die Pralinenschokolade der Florentiner Marke „Rivoire“ zu schmecken. Nach der Laufstegvorführung mischten sich die Mannequins unter die Gäste im Hofe der Veranstaltungsstätte „I Chiostri di San Barnaba“ und brachten ihnen die Modelle als Tableaux vivants nahe. Das Stichwort „Küsse mich“ verwies obendrein auf eine Laube, wo sich die Besucher idealerweise küssen konnten. Diese emotionale Synästhesie war ein Vergnügen par excellence.

Im Jahre 1994 hatten die Mailänder Modeschöpferin Consuelo Castiglioni und ihr Gatte Gianni Castiglioni die Modemarke „MARNI“ geschaffen. Deren Tochter Carolina Castiglioni meldete sich nunmehr mit der ersten Kollektion der eigenen Marke „PLAN C“ als Modeschöpferin in der Modewelt an. Im Mailänder Atelier, wo schon die Urgroßmutter in den 1960er Jahren das Pelzgeschäft betrieben hatte, waren unerwartete Farbkombinationen sowie ausgeklügelte Formen und Proportionen zu sehen.

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