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Herrin der sieben Meere

Die Mode und die Gegenkultur

Viel Schwarz – die Modenschau „INGIE PARIS“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 16. November 2017
Es findet sich immer eine Gelegenheit, eine Geschichte zu erzählen. Vom Leben am und im Meere handelte die Geschichte, welche die Dubaier Modeschöpferin Ingie Chalhoub in Paris erzählte. Die Helligkeit der Oberfläche stand darin der Dunkelheit der Tiefe gegenüber. Das Wasserleben in seiner ganzen Lebendigkeit porträtierte Ingie Chalhoub mit der Prêt‑à‑porter-Kollektion ihrer Marke „INGIE PARIS“ für den Frühling und Sommer 2018. In der Nationalgalerie Jeu de Paume verschmolzen am 28. September 2017 Eleganz und Einfachheit phantasievoll zu einer Einheit.

Fließende und verdampfende Stoffe schwebten wie eine warme Nachmittagsbrise sanft über der Haut. Andere Stoffe wie gefalteter Gold- und Silberlamé waren knackig genug, um der kühlen Abendluft zu trotzen. Eine üppige, ausgestellte Silhouette kam bei Kaftans, bei weiten, seitlich gespaltenen Seemannshosen sowie bei Sirenenkleidern in nüchterner Form und mit in einer Reihe fallenden Pailletten vor. Tageskleider hatten hinten einen konvexen Rand. Hatten Ärmel keine ausdrucksstarke Pagoden- oder Kimonoform, so hingen lose Schleifen an ihnen. In der Taille geknotete Kleider und Jumpsuits wirkten wie ein Pareo oder sonst wie Strandkleidung. Jacquardmotive wie Wellen und Algen auf Seidenorganza erzeugten an der Körperoberfläche ein dezentes Relief. Waagerechte Streifen kleiner Pailletten in aquablauen Schattierungen liefen über die Roben. Dahingegen erschienen übergroße, irisierende Pailletten als Schuppen, um die Sonnenstrahlen zu reflektieren. Tüll mit mehrfarbigem, fein gesticktem Motive in der Gestalt einer Unterwasserszene verhüllte die Haut. Korallenriffe und Muscheln waren die Motive kühner und luftiger Stoffdrucke; Korallenrot oder Blau kontrastierte mit dem Weiß des Untergrundes aus weichem Seidenkreppe oder weicher Viskose. Zart mit der Hand geflochtene Schleifen, entweder klein oder groß, tauchten hier und da auf, mal mit Kristalltropfen bestickt, mal in Reihen angeordnet, mal in großen Falten lockig von den Schulterpartien herabfallend. Pumps mit Stilettabsatze und Sandaletten aus Seide und Leder sind mit Perlen, asymmetrischen Rüschen und Schleifen geschmückt. Die handbemalten oder bestickten Handtaschen entsprachen feiner italienischer Handwerkskunst. Einfache, von einzelnen Perlen umschlossene und mit tropfenförmigen Troddeln verzierte Goldspangen erhielten Unterstützung von übergroßen Perlen auf den Kleidungsstücken.

Unter dem Motto „A Cheryl“ schlug das niederländische Gestalterkollektiv „WE ARE MUZE“ aufs neue zu. In der Veranstaltungsstätte „atelier néerlandais“ zeigten vier Modeschöpfer aus dem Bereiche der Bekleidung und der Accessoires ihre neue Kollektion. Dies geschah in Zusammenarbeit mit der niederländischen Photographin Cheryl Schurgers, die untersuchte, wie Bilder die Identität beeinflussen; sie spielte mit der Idee des Alter Egos sowie mit der Wahrnehmung von Ähnlichkeit und multiplen Identitäten, indem sie sich als Künstlerin und als Gegenstand ihrer Arbeit in unheimlichen Posen einbrachte. Die übrigen Teilnehmer der Installation verwandelten sich, nachdem sie eine „Identitätstransformation“ durchlaufen hatten, in die Figur „A Cheryl“, und zwar sowohl in der Art, wie sie aussahen, als auch in der Weise, wie sie handelten. Sie waren nunmehr eine Muse und zugleich ein Medium der Erforschung. Die Marke „BYBROWN“ stand für die Verbindung technischer Maßschneiderei und ausgefeilter Handwerkskunst mit zeitgemäßer, roher Eleganz; die Modeschöpferin Melanie Brown nutzte Regenkleidung über ihre bloße Schutzfunktion hinaus. Die hinter der Marke „ELECTRIC CO“ stehende Modeschöpferin Conny Groenewegen setzte Fasern und Fäden so ein, daß ein Punkt erreicht wurde, wo das Material begann, einen Pfad anzulegen, der eigenen Regeln folgte. Mit einer einzigartigen Sicht auf die reine Eckigkeit steuerte die Modeschöpferin Jessica Joyce von geometrischen Formen inspirierte, glatt geschnittene Kleidungsstücke bei. Die Schmuckmodeschöpferin Natascha Nedoluha legte die Schmuckstücke ihrer Marke „LoveLuha“ liebevoll frei, um die kreative Kraft der Natur zu feiern. Die Vielfalt der beteiligten Kunstgattungen ermöglichte einen regen kreativen Austausch.

Die neue Kollektion ihrer Marke „GROUND ZERO“ stellten die Brüder Eri Chu und Philip Chu aus Hongkong in der Veranstaltungsstätte „The Community“ vor. Die beiden progressiven Modeschöpfer verknüpften Einflüsse der traditionellen asiatischen Kultur mit Elementen des Straßenstiles. Unverkennbar waren die ungewöhnlichen Silhouetten dank unregelmäßiger Schnitte. Es kamen maßgefertigte Stickereien, Stückwerke und unverwechselbare graphische Stoffdrucke hinzu. Mit der Kollektion wollten Eri Chu und Philip Chu Hongkongs Blütezeit in den 1980er Jahren – Wohlstand hatte sich in der Musik- und Unterhaltungsszene mit Karaoke und New-Wave-Clubs gezeigt – für die Nachwelt festhalten. Das gängige Modebild verzerrten sie durch ihre Haltungen, Stimmungen und Stellungnahmen. Mit ihrer „Anti-Fashion-Attitüde“ untergruben sie sogar die sogenannte Gegenkultur, indem sie die lässigen Aufmachungen neu interpretierten.

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