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El Dorado

Die Mode und die Kunst der Moulage

Bundesdeutsch-österreichisches Feingefühl – die Mannequins Milena Feuerer und Viktoria Machajdik vor der Modenschau „mila schön milano“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 10. November 2017
Für den Menschen ist das Gedächtnis eine unentbehrliche, wertvolle Hilfe im Leben. Bei der Mailänder Marke „mila schön milano“ nutzte deren Modeschöpfer Alessandro de Benedetti das seinige, um die markentypischen Geometrien und die Kunst der Schneiderei ins kreative Bewußtsein zurückzuholen, auf daß sie nicht der Vergessenheit anheimfielen. Mit sehr viel Stoffe gestaltete er dann an Schneiderpuppen feine Kleider.

Streifen durchzogen die im Kreuzgange des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci präsentierte Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018. Wie eine Schraffur liefen breite Streifen mal längs, mal schräg über Kleidungsstücke wie Schneiderkostüm, Ärmelkleid, Hemd, Rock, Hose, Bolerojacke und Mantel. An einem Trenchcoat aus Baumwolldrille beschränkte sich die Schraffur auf Ärmel und Rückenpartie. Äußerst schmale Streifen wie am Rocke eines Schneiderkostümes und an einem Mantelkleide bildeten konzentrische Rauten, was einer Zielscheibe ähnelte. Bei graphischen Drucken wiederum erschienen schmale gerade Streifen wie Balkendiagramme und wellige wie Rippelmarken. Alles mutete wie ein Bilderrätsel an. Darüber hinaus kamen als Muster auf cremeweißem Grunde unregelmäßig verteilte und in ihrer Form selbst unregelmäßige Tupfen, entweder königsblau oder himmelblau, an einem Kleide, Hosenanzuge, Blazer und Mantel vor. Davon abgesehen, öffnete sich ein einfarbiges Sackkleid mit dreiviertellangen Ärmeln zu den Waden hin; das gleiche tat ein einfarbiges tailliertes Kleid mit halblangen Ärmeln. Einfarbige leichte, fließende Kleider waren demgegenüber ärmellos. Als Teil eines Schneiderkostümes hatte eine Jacke eine große Kapuze, die ins Revers überging. Die Drapage rief ein Wellenspiel auf dem Körper hervor und mehrte das Volumen. Die Linien waren nüchtern und elegant. Asymmetrie war ein anderes Merkmal der Kollektion. Weitere Materialien waren Seidenorganza, gewaschene Seide, Wolljacquard, Canvas und Raphiabast. Die Farbpalette umfaßte Schwarz, Cremeweiß, Beige, Burgunderrot, Orange, Kürbisgelb und Jadegrün. Zu spitzen Schuhen samt Knöchelbande an den Füßen wurden an den Ohren große Ringe getragen. Ein gelegentliches Accessoire waren am Halse verknotete Foulards für den Kopf oder nur für den Hals selbst.

Bei der Kollektion „EL DORADO – CITY LOST AND FOUND“ begab sich der Modeschöpfer Salvatore Piccione aus Sizilien auf die Suche nach der sagenhaften Stadt des Goldes: El Dorado. Auf einer abenteuerlichen und abwechslungsreichen Route erkundete er die geographischen und kulturellen Konturen der exotischen Gegenden Brasiliens, das mit seinen vielen symbolischen Geistern alt und zugleich modern war. Einmal verloren und jetzt wiedergefunden, entdeckte Salvatore Piccione, als das Ziel endlich in Sicht kam, ein El Dorado mit zeitgenössischem Charme. Eine Inspirationsquelle für die im Palazzo Reale gezeigte Kollektion seiner Marke „pıccıone●pıccıone“ war die Natur in all ihren möglichen Manifestationen. So zeigte sich der reine und ungezähmte Amazonasregenwald bei farbenfrohen Graphikdrucken voller tropischer Flora und Fauna, was Stoffe belebte. Exquisit gestickte exotische Blumen, mit Kristalltautropfen zusätzlich verziert, silberne Pailletten und Lurexgarne erzeugten ein Lichtspiel, das die Stoffe wie gurgelnde, von üppiger Vegetation verdeckte Wasserwege aussehen ließ. Der ungezügelten Kraft der wilden Natur erwehrten sich in einer farblichen Zusammenstellung sanfte Töne wie Silber und leichtes Staubrosa oder kräftige Töne wie Hochrot, Fuchsienrot und helles Orange, deren Intensität weiche Drapage und seidige Stoffe schwächten. Salvatore Picciones Phantasie bevölkerten Baumfrauen, die sich mit Wedeln zwischen Lilien und duftenden Farnen bewegten. Es waren Wesen von ätherischer Schönheit und ausgeprägter Weiblichkeit, die mit Selbstbewußtsein und Anmut zum berauschenden Rhythmus der Geräusche im Regenwalde immer tiefer in dessen Herz eindrangen. Die als „Amazonasdruck“ auf Seidengeorgette abgebildeten Naturelemente, schienen dem ahnungslosen Betrachter zuzublinzeln, um ihn durchs Waldlabyrinth zu führen.

Eine andere Inspirationsquelle war das Werk des brasilianischen Architekten und Landschaftsgestalters Roberto Burle Marx. Im Hinblicke auf sein umfassendes Wissen über die Natur und seine Fähigkeit, Volumen, Farben, Licht und Schatten gekonnt aufeinander abzustimmen, war er für Salvatore Piccione ein Verwandter im Geiste. Auch dies spiegelte sich in der Kollektion wider. Auf dem Reize der geordneten und traumhaften Landschaften beruhten entschieden lineare Schnitte, welche die kräftigen Farben abmilderten. Die Auswahl der Stoffe führte zu subtilen Lichtspielen und Kontrasten; durchsichtiger und kaum fühlbarer Chiffon, Seidengeorgette, Tüll und Seidenorganza wechselten sich mit steiferen und knackigeren Stoffen wie Tafte ab. Die Reinheit und Spiritualität des brasilianischen Bundesstaates Maranhão als eines Naturparadieses von erstaunlichem Weiß und mit einem kristallenen Meere blieb nicht ohne Einfluß auf die Kollektion. So weiß wie der Sand der nordöstlichen brasilianischen Strände war eine Reihe strenger Kleidungsstücke, namentlich Kleider, Röcke, Hosen und Blusen zeitgenössischer „Priesterinnen“ als Abgesandter aus der Ferne in der Stadt des Goldes, was im Gegensatze zur starken Lebhaftigkeit bei Drucken und Farben in der restlichen Kollektion einem stilistischen Bedürfnisse nach Entschlackung entsprach. Aus Baumwolle und Seidenorganza bestanden jene mit Spitze veredelten und mit Blumenstickerei in eng verwandten Farbtönen verzierten Kleidungsstücke, deren Paßform die Linien des weiblichen Körpers harmonisch betonte. Kleidungsstücke aus leichtem, laminiertem Seidenjacquard, die für Salvatore Piccione einer Amazonasnymphe würdig waren, schimmerten dank überlappender, mit Pailletten und Blumenapplikationenen bestickter Tüllbespannung.

Ein exquisiter dreidimensionaler Effekt stellte sich ein bei Schichten Baumwolltuches mit blühenden Blumen als Applikation und mit einer Kruste aus Strass-Steinen. Den Schwerpunkt der Kollektion bildeten erneut die Kleider, welche es vermögen, die Weiblichkeit jeder Frau zu unterstreichen. Es handelte sich um Kleider unterschiedlicher Längen und Paßformen; sie reichten von Stücken im Schnitte guten Tones bis zu langen, weichen, gewundenen Stücken mit raffiniertem und verführerischem Aussehen. Trotz der Unterschiedlichkeit der Proportionen fehlte ein Gefühl der Ausgeglichenheit und Harmonie nicht, denn jedes Kleidungsstück mußte unter Beachtung der natürlichen Anmut des Körpers der Trägerin eine Vorstellung von fließender Weiblichkeit, romantisch und zeitlos, vermitteln. Viskose und zart lumineszierender Lurex waren die Materialien für einige Strickjacken, deren Farben auf Südamerika hindeuteten; auf Fuchsienrot, Gelb, Grün, Azurblau und Weiß für den Grund prallten noch fein gestickte Blüten. Zu den Kleidern passende Lederhandtaschen bereicherten unter Berücksichtigung des Kollektionsthemas die Kollektion. Farbblöcke sorgten für einen eleganten Kontrast, wohingegen der farbenfrohe „Amazonasdruck“ luftig wirkte. Einsätze aus Pythonleder und exotische Fransen charakterisierten die eklektischen Stücke, wohingegen Applikationen aus dünnen vergoldeten Metallringen einige reliefartige Stücke schmückten. Die Marajoara-Keramik stammte übrigens von den indigenen Amazonasvölkern. Alles in allem erschuf Salvatore Piccione ein facettenreiches kreatives Ökosystem. Die Kleidungsstücke konnten sich verschiedenen Frauentypen anpassen, so daß jeder, der sich sowohl nach innen als auch nach außen hin schön fühlen mochte, ein passendes Stück finden konnte.

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