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Die Schönheit und die wilde Höflichkeit

Mode in Zeiten des Umbruches

Einblick – die Modenschau „ERMANNO SCERVINO“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 8. November 2017
Kunst wirkte durch Widerstand. Da war sich der aus Rom stammende und in Mailand tätige Modeschöpfer Albino D’Amato sicher. In diesem Sinne hatte Mode zwar einen sozialen Anspruch, aber kein politisches Ziel. Für den kreativen Kopf hinter der Marke „ALBINO TEODORO“ war ein Kleidungsstück als Gehäuse ohne inhaltliche Tiefe.

Ausgangspunkt der Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 war das Gedicht „Delight in Disorder“ des englischen Dichters der Bürgerkriegs- und Restaurationszeit Robert Herrick aus dem Jahre 1648: „A sweet disorder in the dress / Kindles in clothes a wantonness. / A lawn about the shoulders thrown / Into a fine distraction; / An erring lace, which here and there / Enthralls the crimson stomacher; // A cuff neglectful, and thereby / Ribands to flow confusedly; / A winning wave, deserving note, / In the tempestuous petticoat; / A careless shoe-string, in whose tie / I see a wild civility: / Do more bewitch me than when art / Is too precise in every part.“ Robert Herrick hatte die ungeordnete, unvollkommene Weise, in der eine bestimmte Dame gekleidet gewesen war, beschrieben; doch gerade diese „wilde Höflichkeit“ war für ihn so bezaubernd gewesen. Der Wiener Komponist und Musiker Wolfgang Amadeus Mozart hatte sich auch darauf verstanden, Disharmonie musikalisch, gar melodiös wiederzugeben; dessen Streichquartett Nr. 19 C‑Dur KV 465 aus dem Jahre 1785 hat den Beinamen „Dissonanzenquartett“ nicht ohne Grund. Für Albino D’Amato waren beide „unvollkommenen“ Werke irgendwie wirklich vollkommen. Auch der Kultur der japanischen Teezeremonie im Rahmen des ästhetischen Konzeptes namens Wabi-Sabi ist das Prinzip der Unvollkommenheit nicht fremd. An dieser Stelle begegneten sich sogar die westliche und die östliche Kultur.

Was einzeln betrachtet, dissonant, übertrieben und reizlos wirkte, das erschien unter dem Motto „Beauty and Imperfection“ in der Kollektion, mithin als Teil eines Ganzen, plötzlich harmonisch. Das ideale Kleidungsstück hielt sich nicht an eine bestimmte Form; die Phantasie mußte die Freiheit haben, die Silhouette der Trägerin zu erahnen. Die daraus folgenden Formen wiesen auf eine neue Körpergeographie hin, deren Grenzen undefiniert geblieben sind. Nichts griff ein, um die Identität und die Proportionen des Körpers zu verändern. Es blieb der Luft überlassen, die Beziehung zwischen Körper und Kleidung zu bestimmen, deren Wesen durch das vernünftige Zusammenspiel von Massen und Volumen zu strukturieren. Die Formen lösten sich in ihrer eigentümlichen Abstraktion auf und entzogen sich jeglichem Klischee. Die wesentlichen Stücke der am 23. September 2017 im Palazzo Reale präsentierten Kollektion waren Trenchcoat, Blazer, Overall, Abendkleid und Bluse. Volumen und Asymmetrie waren so ausgeprägt, daß die Kleidungsstücke in Stein gemeißelt zu sein schienen; dies ließ an die fallenden Linien des altgriechischen Peplos und die weichen, einfachen Linien der orientalischen Tracht denken. Bei der Materialauswahl gab der Aspekt der Körperlichkeit und Dreidimensionalität den Ausschlag. Asiatisch gemusterter Jacquardstoff, Seidenduchesse mit Nadelstreifen, Seide als Jacquardgrisaille mit maskuliner Note und Lurex mit Wirkung einer Schilfmatte kraft silberner gotischer Muster. Natürliche Pigmente waren das Material für die Farben, deren Palette Lapislazuliblau, Granatrot, blasses Rosa, Beige, Elfenbeinweiß, Kohlenschwarz, Gold und Silber umfaßte.

Nichts als die Schönheit der Harmonie zählte am Ende für den Modeschöpfer Ermanno Daelli. Bei der neuen Kollektion der in Bagno a Ripoli nahe Florenz beheimateten Marke „ERMANNO SCERVINO“ zerbrach er die Formen und richtete neue Balancen ein, indem er es vorzog, seinen Stil um scheinbar kollidierende Elemente zu erweitern. Er behielt den hyperfemininen Stil bei, aber die Aufmachungen waren nunmehr etwas moderner, doch weiterhin gepflegt. Das provokative Feminin-maskulin-Spiel, beispielsweise wenn schwarzes Leder mit Spitze gemischt wurde, um einen subtil erotischen Kontrast zu erzeugen, betrieb er gerne. Ein zweireihiger Blazer aus flammenrotem Leder in Sanduhrenlinie bildete mit einer knackigen weißen Bluse und einem dünnen, durchsichtigen Bleistiftrocke aus Spitze eine Kombination. An einer Paarung beteiligten sich ferner ein Ballonrock aus himmelblauer, handbemalter Spitze und ein maskulines gestreiftes Baumwollhemd. Zu federleichten Kleidern aus Crêpe Georgette, mit Spitzenstickerei und überlappenden Drucken in Gestalt von Blumen und Blauregen (Glyzine) dekoriert, traten ungewöhnliche Lederhemden und ellenbogenlange Tüllhandschuhe. Die im Palazzo Serbelloni gezeigte Kollektion war eine Hommage an das Schlupfkleid, das in dieser Saison unverzichtbar sein sollte. Es kam in Kombination mit Stücken in der Art der Herrenbekleidung vor, um eine kontinuierliche Vermischung maskuliner und femininer Bekleidungsregeln zu erreichen.

Stufenförmig verlaufende, schmale Besatzstreifen aus Chantilly-Spitze zierten Décolleté und Säume schräg geschnittener Schlupfkleider, mit zarten Blüten bedruckt und zusätzlich mit weißem, fließendem Satin oder Crêpe de Chine verführerisch drapiert. Für den Abend verwandelten Kristalle und Spitzendetails das Schlupfkleid in eine Robe. Ein weißer, flauschiger, anmutig bestickter Rock aus Seidenorganza hatte ein schwarzes, in der Taille eng zusammengebundenes Lederbustier als Oberteil. Petticoats, gleichviel ob in klassischen Satinversionen, aus Seidenduchesse mit Spitzendetails und kontrastierenden Farben oder mit einer Kristallbasis verziert und mit Spitze überzogen, wurden unter bunten Trenchcoats, Bomberjacken, Spitzenpelzmänteln und übergroßen Daunenjacken getragen. Unter einem Trenchcoat befand sich ebenfalls ein voluminöser, bedruckter Rock aus beige Seidenorganza. Der kleine Gesellschaftsanzug wurde zu einer Vorgabe für die Damenbekleidung. Fast schon anzüglich wirkte ein scharf geschnittener Smoking aus pastellfarbenem Seidencady, den ein durchsichtiger Kittel aus farblich abgestimmtem, hauchdünnem Seidenorganza bedeckte. Hauchdünne Tops mit Kontraststreifen und alte Röcke strahlten kraft ihrer Silhouetten einen Hauch Sinnlichkeit aus. Mit weichen Bändern versehene Lederpumps samt Nagelabsatze sorgten für eine schmale Silhouette, wohingegen flache Sandaletten den entspannten, urbanen Stil der Anzüge unterstrichen.

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