▌EN

In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!

Die Mode und der Transformismus

Zartheit – die Modenschau „Luisa Beccaria“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 3. November 2017
Was das achtzehnte Jahrhundert hervorgebracht hatte, das ist im Stadtbilde Mailands allgegenwärtig. Auf Schritte und Tritte begleitet es sogar die Modepräsentationen. Diesmal traf es vor allem auf die Mailänder Modeschöpferinnen Luisa Beccaria und Lucilla Bonaccorsi zu; doch zählte dazu nicht nur die Präsentationsstätte, sondern auch die Schaumusik.

Ihre Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 präsentierten Luisa Beccaria und Lucilla Bonaccorsi am 21. September 2017 in der klassizistischen Villa Reale des aus Wien stammenden und in Mailand und Pavia tätigen Architekten Leopoldo Pollack aus dem Jahre 1796, welche nunmehr die Galerie moderner Kunst Mailand beherbergte. Im Frühlinge des Jahres 2018 wird dort übrigens eine Ausstellung des italienisch-französischen Malers Giovanni Boldini, dessen in impressionistischer Weise porträtierte Frauen ohnehin zu Luisa Beccarias Musen gehörten, zu sehen sein. Die Schaumusik enthielt unter anderem ein Musikstück des Komponisten und Fürstlich Anhalt-Köthenischen Kapellmeisters Johann Sebastian Bach. Es handelte sich um das dritte Konzert mit mehreren Instrumenten für Christian Ludwig Markgraf von Brandenburg-Schwedt aus dem Jahre 1721, das sogenannte 3. Brandenburgische Konzert G‑Dur BWV 1048. Zum höfischen Ambiente paßten dann die edlen Kleider der Kollektion.

Unter dem Motto „Like a flower: the wild dreamer“ zeigten Luisa Beccaria und Lucilla Bonaccorsi eine kontrastreiche Kollektion mit weicher und zarter Weiblichkeit. Gebrechlichkeit und Überschwang begegneten in einer verführerischen und exzentrischen Träumerin einander. Das Naturthema beinhaltete ganze Blumen, Blütenblätter, Schmetterlinge und Libellen als Motive. Ein solch kostbares Herbarium paarte sich mit stromlinienförmigen Streifen an kurzen Kleidern und langen Blusen. Bänder und Streifen befanden sich an Cardigans in Maxilänge, wohingegen weiche Sweatshirts feine Stickereien aufwiesen. Verschiedene Stoffe waren miteinander verwoben. Das Farbenspiel erstreckte sich auf drei Bereiche: erstens helles Blau, helles Grün und Gelb in dezenten Schattierungen, zweitens lebhafte Rottöne und drittens Nachtblau mit seiner Tiefe. Auf der einen Seite war Serge de Nîmes mit Spitzendetails nachtblau; auf der anderen Seite erschienen bestickte, lange Tüllkleider mit Transparenzen und irisierenden Verzierungen. Die Taille betonten sowohl weiche Silhouetten als auch sehr strukturierte, schräge Röcke in A‑Linie. Im Mittelpunkte der Kollektion standen jedoch Hosen, Shorts und Anzüge, allesamt dem Bänderkonzepte verhaftet. Im Zusammenwirken mit dem Volumen formten V‑Ausschnitte die Schulter- und Brustpartien. Couturestoffe und maßgeschneiderte Details zeichneten die Kollektion aus. Fil‑coupé-Organdy, florale Seide, Makrameespitze, Jacquard und – auch für Nestellöcher – Baumwolle gehörten hierher. Überhaupt kam von der Minilänge bis zur Maxilänge alles vor. Stiefeletten aus Spitze und aus tausend Bändern, Sandaletten samt Nagelabsatze sowie Mules entstammten der eigens für Luisa Beccaria geschaffenen Sonderkollektion der Mailänder Schuhmarke „RACINE CARRÉE“. An den Schuhen und auch an den Geldbörsen tauchten die Kleiderstoffe wieder auf. Als weitere Accessoires hatten Schmuckstücke und Haarnadeln die Gestalt von Schmetterlingen oder Libellen auf einer Blume.

Inspirationsquelle für die neue Kollektion der Marke „VIVETTA“ zwischen Geschichte und Legende war der zeitgenössische russische Maler Andrej Remnow. Die uralten und melancholischen, aber modernen und graphischen Pinselstriche, die Farbgebung sowie die zarten, edlen, traumhaften und hypnotischen Frauengestalten, in einer surrealen Atmosphäre schwebend, als Hauptmotive seiner Gemälde, was seine Liebe zum Detail und speziell zur Stickerei betonte, faszinierten die Mailänder Modeschöpferin Vivetta Ponti. Als Hommage an die Welt der zeitgenössischen Kunst im allgemeinen und den besagten russischen Künstler im besonderen übertrug sie dessen Kunst auf den Laufsteg, und zwar auf denjenigen im Palazzo del Senato beziehungsweise Staatsarchive. Mit ihren Kleidern, die Leinwänden glichen, porträtierte sie ein wundervolles, verzaubertes Universum mit einer Fülle magischer Elemente. An der Collage aus raffinierten handgefertigten Dekorationen beteiligten sich Edelbrokat, helle und mehrfarbige Seidenduchesse, ausgeklügelter Paillettenmakramee, blendende Applikationen aus „SWAROVSKI“-Steinen und Perlen sowie flüchtige Profile. Andrej Remnows Lieblingsmotive wurden ohne weiteres auf die Kleider übertragen. Iris blühte auf den Stoffen, von den federleichten Flügen von Libellen, Schmetterlingen und Schwalben gekreuzt. Darüber hinaus stammten Elemente aus der Unterwasser- und Waldwelt.

Im ewigen surrealen Wechselspiele des Transformismus überwand die Natur die reale Dimension; phantastische Tiere wie Fische und geflügelte Kreaturen erblühten in prächtigen Blüten. Röcke waren so leicht wie Wolken und hatten von aufgeblähten Krinolinen betonte Volumen. Kaskaden roh eingefaßten Tülles, Transparentfolien und Spitze mit winzigen Maschen traten hinzu. Den mit Kristallen besetzten Seidenorganza verschleierten allmählich zarte, leichte Federn. Die Leichtigkeit dieser Stoffe stand im Gegensatze zu den Stoffen robusterer Natur. Ein Bustierkleid aus handgewebter und handgefärbter Serge de Nîmes mit seinem übertriebenen Volumen stach hervor. Der gemeinsame Rote Faden, welcher die zwei inspirierenden Welten, die nur scheinbar voneinander getrennt waren, miteinander verband, war der Jeansstoff. Verblaßte und bestickte Serge de Nîmes mit farbigen Federbändern fand auch und sogar bei den Schuhen Verwendung für einen „totalen Look“. Paßform, Volumen und Drucke verwiesen deutlich auf den Pop-Underground-Stil der 1990er Jahre, was sich an der Übergröße von Kleidungsstücken und hyperfemininen Aufmachung zeigte. Seidenorganza, Fil-Coupé-Brokat und Baumwolljacquard ließen an romantische Wandteppiche denken. Die kleinen Quasten zur Bereicherung stammten ebenfalls aus der Welt der Innenraumgestaltung.

T‑Shirts in Maxigröße wurden über Minikleider mit minuziösen, funkelnden Pailletten im Stile der 1960er Jahre getragen. Flammende Stickereien in Säuretönen mit sportlichen Elementen zierten Kleider aus Seidensatin. Ein smaragdgrünes Kleid mit tiefem Seitenschlitze hatte eine Federschleppe und eine Federboa. Die Formgebung gewährleistete den Ausschneiden-und-Einfügen-Effekt (cut and paste); ein Top mit kontrastierender Spitze an den Ärmeln, das eines Baseball-T‑Shirts erinnerte, tauchte zusammen mit einem für den Roten Teppich geeigneten Rocke auf. Ein schwarzes Kleid samt weißem, dekoriertem Seidensatinoberteile, das hinsichtlich des Schnittes und der Silhouette genau den Dessinregeln dieser Stimmung entsprach, ging auf das Tragen eines kurzen T‑Shirts über einem Tüllrocke zurück. Die Dekorelemente, die Andrej Remnow so geliebt hatte, fanden sich, nach einem entschieden zeitgenössischeren Geschmacke überarbeit, in den Drucken auf Blusen und kurzen Kleidern wieder. Die leichten, staubigen Farbtöne der reinen Morgendämmerung von zartem Blau bis zu Babyrosa trafen auf einzigartige fluoreszierende Töne und viel Gold, was ein klarer Hinweis war auf die kostbaren Pigmente, die von Hand gemischt und vom besagten Künstler selbst verwandt worden waren, wie in der Vergangenheit. Das Schuhwerk bildeten hohe Cuissard-Stiefel und Bogenmules, entweder glitzern oder in hellen Pastellfarben, sowie zarte „profilierte“ Ballerinas in kollidierenden Farbtönen.

Für die aus Tokio stammende Modeschöpferin Izumi Ogino handelte es sich bei der kommenden Saison um eine Jahreszeit des Lichtes, der Leichtigkeit und der Rückkehr des Glückes, wo der Wandel das Herz erregte. Mit der neuen Kollektion der italienischen Marke „ANTEPRIMA“ galt es zu erkennen, wer wir seien. Subtile Unterschiede machten es klar; man sollte immer man selbst sein. Es war zu spüren, wie die Stoffe flossen und glühten. Schwingende Riemchen und asymmetrische Silhouetten trafen auf sanfte Materialien und flache Schuhe. Unregelmäßige Texturen und Säume sowie gemischte Muster zeigten, wie sinnlich Silbermetall, Netz und flüssige Opulenz sein konnten. Spontan gesetzte, kräftige Farben auf einer spielerische Skala brachten Schönheit und Licht in die weibliche Form. Weich und bequem, aber zugleich erhaben waren die Kleidungsstücke der in der Veranstaltungsstätte „Fabbrica del Vapore“ vorgestellten Kollektion.

Weitere Bilder