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Eine Frage der Haltung

Abstraktionismus und Experimentalismus in der Mode

Gar nicht kleinkariert – die Mannequins Militsa Borisova, Catarina Santos und Maria Kiryukhina vor der Modenschau „MARYLING“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 2. November 2017
Um sich von der Masse der Modemacher abzuheben, beschreiten Modeschöpfer gerne besondere Wege. Der Mailänder Francesco Scognamiglio hatte seine kreative Hand längst nach der Couture beziehungsweise nach Paris ausgestreckt und am 10. Juni 2017 eine Kollektion in Wien auf der Benefizveranstaltung „LIFE BALL“ zu Gunsten HIV‑infizierter und AIDS‑kranker Menschen präsentiert. In Richtung auf die Couture bewegte sich auch die Mailänder Marke „MARYLING“, deren Credo lautete: „Eleganz ist eine Haltung. Eleganz ist eine Kunst.“ Die Britin Lesley Hornby alias Twiggy, Schauspielerin, Sängerin und Mannequin, hatte einst gesagt: „Man muß sich nicht wie jemand sonst kleiden. Es macht viel mehr Spaß, einen eigenen Look zu kreieren.“

Insofern zeichnete sich die am 20. September 2017 im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci in Mailand gezeigte Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Frühling und Sommer 2018 durch eine Palette verschiedener Stile aus. Unter dem Motto „MINIMALIST FASHION“ verschmolzen bildende Kunst und Bekleidungsgestaltung. Es entstanden tragbare Meisterstücke auf der Grundlage der graphischen Werke des amerikanischen Malers und Bildhauers Ellsworth Kelly, des französischen Malers Jean Degottex sowie des argentinisch-italienischen Malers und Bildhauers Lucio Fontana als Inspirationsquellen. Eine weiße Leinwand in einem schwarzen Rahmen, eine schwarze, mit scharfer Klinge zerschlitzte Leinwand und ein den Raum teilender Pinselstrich hatten ein einfaches Bild erzeugt, woran sich die pure Kreativität gezeigt hatte. Jean Degottex’ Abstraktionismus und der Experimentalismus des französischen Modeschöpfers Pierre Cardin mischten sich nunmehr; der Dialog zwischen Form und Farbe schlug sich kräftig in den Stücken der Kollektion nieder. Hemdkleider mit betonter Taille hatten klare Linien und wirkten so natürlich schick. Die Schulterpartien und Halsausschnitte der übrigen Tages- und Abendkleider ließen diese anmutig aussehen, während neue Schößchen abzielten auf Stilexperten, welche die Geräusche raschelnden Stoffes um sie herum zu schätzen wußten. In Anspielung auf Twiggy durften obendrein die Silhouetten der 1960er Jahre nicht fehlen. Der Minirock erreichte Couturestatus, während die hochgeschnittene Palazzohose als Stilobjekt taugte. Blendende optische Drucke, ungewöhnliche geometrische Formen sowie ein Bouquet von Regenbogentönen wie helles Rot, Gelb und Stahlblau machten den Mod-Stil lebendiger, um wie bei Ellsworth Kelly beim Betrachter eine Explosion von Emotionen hervorzurufen. Weitere Farbtöne waren Orange, Limonengrün, Indigoblau und Weiß. Materialien waren Seidensatin, Seidenchiffon, Baumwolle und Makramee. Sandaletten samt hohem Absatze rundeten das Bild ab.

Nach Cristiano Burani und Rocco Adriano Galluccio war Alberto Zambelli aus Polpenazze del Garda in der Lombardei ein weiterer Modeschöpfer mit Fernweh. Auf einer langsamen Reise zwischen Sonne und Lagune fand er bei der Erforschung horizontaler und vertikaler, gerader und krummer Linien zu einer edlen Tonalität. Daneben dachte er an die Kunstausstellung „L’Esposizione Internazionale d’Arte, La Biennale di Venezia“ in den 1920er Jahren. Vor Augen hatte er ein Porträtgemälde des italienischen Malers Felice Casorati, wo, in der Flüchtigkeit eines Augenblickes gefangen, der Kopf mit blasser, glatter, zerbrechlicher Haut und mit einem großen Kamme zwischen den Haaren aus dem dunklen Hintergrunde herausschien. Derart stellte sich Alberto Zambelli eine Frau mit leidenschaftlicher Energie und positiver Einfachheit vor. Unter dem Motto „EXTRAVAGANZA ORDINARIA“ ließ der salzweiße Ton die weiten Tunikakleider aus Popeline und die Kleider mit reichlicher rückseitiger Drapage aufleuchten. Jacquardmoiré, Ottoman mit Effektgarnen und Organza brachten mit großen Rüschen und Krausen eine elegante, übergroße Silhouette hervor. Mehrere Bänder erweckten goldene Kleider und Capes aus lasergeschnittenem und wiederverbundenem Seidenkreppe in Kastenform zum Leben. Zu den Kleidungsstücken mit umwickelten und abgerundeten Plisseefalten aus dynamischer Mohairwolle und fließendem Chiffon traten Kämme aus Murano-Glase als Dekoration. Aristokratische Karos begegneten dekorativen Spitzen an minimalistischen Mänteln und Tunikakleidern. Weite Kragen wurden Schals, welche die Schultern mit ihren Drucken in Schachbrettmusterung berührten. Fil‑à‑fil-Organza sowie schwarz-weißer Stoff mit Effektgarnen wirkten wie Planquadrate. Mit juwelenartigen Fransen bestickt, wirkten durchsichtige, lange Kleider überaus sinnlich. Schneiderkostüme und Hosenanzüge in Bleistiftform kamen ebenfalls vor. Die Farbpalette umfaßte noch Pauspapiergrau, Hämatitrot, Rosa, Orange und Lagunenblau. Zu allem wurden Doppelsocken und Sandaletten getragen. Wichtige Accessoires waren manchmal Brillen samt dunklen Sicherheitsgläsern. Es war übrigens nicht nur die Lagune in der Ferne als Sehnsuchtsort, die Alberto Zambelli und Rocco Adriano Galluccio gemein hatten, sondern auch der Ort der Kollektionspräsentation, nämlich der Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci.

Der Mailänder Modeschöpfer Lucio Vanotti stellte am 21. September 2017 seine neue Kollektion im Palazzo Reale vor. Unter dem Motto „A LIKE ASYMMETRY“ galten für die Volumen Dekonstruktion, Rekonstruktion, Unterbrechung, Zusammenfügung, Schichtung und Skulptierung. Den Gedanken an die Angemessenheit stellte auf den Kopf der Wunsch, frei und rigoros zu erkunden und zu experimentieren, wobei die Texturen und die komplexe Reinheit der Formen im Mittelpunkte standen. Lucio Vanotti zog ab, fügte hinzu, teilte und mischte. Im Hinblicke auf die 1950er Jahre, die Zeit des Modernismus, fand er eine Balance in der Asymmetrie und in der Idee einer sanften Rebellion, und zwar auf halbem Wege zwischen Teddy-Maiden und Suffragetten, was pragmatisch und weiblich zugleich war. Dies mündete in anmutige, dreidimensionale Silhouetten. Gürtel und Seile markierten hohe Taillen. Offene Röcke, sich verjüngende Hosen und luftige Blusen so lang wie Kleider kamen hinzu. Bei wesentlichen Kleidungsstücken gab es Verbreiterung, Aufteilung und Schichtung. Materialien waren Gold und Kupfer bei Gestricken und metallischen Teilen, Rohgewebe, Baumwolle für Hemden, Serge de Nîmes, fließende Seide. Holz- und Lederclogs verankerten den Körper am Boden. Seile gaben eine sinnliche Note; oder sie schlossen Handtaschen. Konsequenterweise umfaßte die handliche Farbpalette Weiß, Schwarz, Azurblau, Seegrün, Kupferrot, Goldrostbraun, Lederbraun und Ocker.

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