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Die Invasion der Modemacher

Pointillismus in der Mode

Durch die Tür – die Modenschau „PAUL & JOE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 26. Mai 2017
In Paris gab es wieder eine „Invasion“ aus Kanada. Die kanadischen Modeschöpfer Kirk Pickersgill und Stephen Wong präsentierten am 7. März 2017 im Hotel „LE MEURICE“, genau gesagt in dessen Salon Pompadour, die Prêt‑à‑porter-Kollektion für den Herbst und Winter 2017/2018 ihrer Marke „greta constantine“. Die für Accessoires, Frisur und Schminke zuständigen Leute brachten sie aus Kanada geradeswegs mit. Aus Kanada kamen auch die Mannequins.

Bei der Kollektion drehte sich alles um den „Cocktail am Abend“. Eleganz und Sinnlichkeit wurden dafür sozusagen mit elektrischer Energie aufgeladen. Schlanke und besonders spitze Schnitte formten die Kleidungsstücke, deren Silhouetten die Körper mit dem Geiste eines gewagten Rock’n’Rolls umgaben. Überall an Ärmeln und Schulterpartien befanden sich Rüschen, wohingegen Origamifalten etliche kurze oder lange Kleider verschönerten. Drucke mit Paisleymuster schmückten Mäntel. Blumenbrokat und Kristalle waren weitere Schmuckelemente. Die stahlblauen oder magentaroten langen Handschuhe strahlten Extravaganz aus. Für Sexappeal sorgten mit Schmuckstücken versehene Cuissardestiefel und Gürtel. Dies verstärkte opulenter Schmuck, nämlich Fingerringe und Ohrringe, der von der Schmuckmodeschöpferin Rita Tesolin in Toronto stammte. Der für die Marke „KMS Canada“ tätige Friseur Tony Pham verpaßte den Mannequins Frisuren mit natürlichen Strukturen, während die für die Marke „MAC“ tätige Kosmetikerin Tiffany Johnson deren reine, gewissermaßen unschuldige Gesichter mit Spinnenwimpern kess machte.

Nachdem der indische Modeschöpfer Rahul Mishra seine Kollektion „INFINITY“ auf einer Modenschau am 4. März 2017 im Palais de Tokyo gezeigt hatte, war sie vom 5. März 2017 bis zum 9. März 2017 als Bestandteil des Schauraumes „TALENT TO TREND“ in der Villa du Lavoir in der Umgebung des Platzes der Republik zu sehen. Mit der Kollektion wollte Rahul Mishra auf Indiens besonderes Handwerk, das heißt aufs Nähen mit der Hand, hinweisen sowie einen nachhaltigen und fairen Umgang mit der Ware anmahnen. Voller Stolzes blickte er auf den künstlerischen Eifer der traditionellen Handwerker – es waren rund siebenhundert – bei der Umsetzung seiner Entwürfe zurück. Diese Kunstfertigkeit nach der Devise „Handmade in India“ manifestierte sich in der Tiefe und Dichte der mehrdimensionalen Handstickerei mit Neigung zu traditionellen Formen. Ein mitternächtlicher Gang durchs Nationalmuseum der Modernen Kunst im Centre Pompidou in Paris während der sogenannten Weißen Nacht des Jahres 2016 hatte Rahul Mishra regelrecht hypnotisiert und betäubt. Dieses Erweckungserlebnis hatte tiefe Spuren hinterlassen, so daß er sein Handwerk im besonderen und die Schneiderkunst im allgemeinen in einem neuen Lichte sah.

Tuche, Stickereien und graphische Drucke waren die Gegenstände, um die grenzenlose Kreativität in den menschlichen Fähigkeiten freizulegen. Traditionelles Handwerk mit Erfahrungen aus Jahrhunderten war nötig, um eine moderne, aber naive Komposition der Natur zu erschaffen, die Impressionismus, Pointillismus, abstrakten Expressionismus und Surrealismus einbezog. Der Pointillismus zeigte sich beispielsweise darin, daß sich kleine Punkte reiner Farbe nicht schon auf den Stoffen, sondern erst im Auge des Betrachters zu einem Bilde vereinigen sollten. Stickerei ätzte sozusagen bunte Bilder mit Bäumen, Blumen und Kirschen in handgewebte Stoffe. Rahul Mishra dachte hierbei an das Gemälde „Die Pinie (St. Tropez)“ des Franzosen Paul Signac und an die berühmten, oft gemalten Sonnenblumen des Niederländers Vincent Willem van Gogh. Eine Galaxie im unendlichen Universum erschien ihm überdies bloß als leuchtender Punkt am dunklen Himmel; in der Fülle ergab sich jedoch für ihn ein strahlendes Muster. Diesen momentanen Eindruck galt es phantasievoll künstlerisch festzuhalten, worin sich noch der Impressionismus ausdrückte.

Die neue Kollektion ihrer Marke „COPPÉLIA PIQUE“ stellte die Pariser Modeschöpferin Axelle Migé am 11. März 2017 – eigentlich fernab der Modewoche – im Palais Vivienne vor. Die Modeperformanz unter dem Motto „À la Liberté“ vereinte modernen Tanz, dramatisches Schauspiel und Kammermusik. Zu den Tänzern, die von der Compagnie Caroline Carlson und vom Nationalkonservatorium des Tanzes von Paris kamen, gehörten Yukata Nakata, Fanny Sage und Fanny Alton. Ricardo Izquierdo spielte Saxophon, Marion Elan Trigo spielte Violoncello. Mit der Gitarre musizierte Theo de Hond, der nebenher zusammen mit Cristina Maso sang. Die Szenerie bestand aus einer Bar in New Orleans während der Prohibition, wo eine Gruppe Widerständler auf die Rückkehr eines ihrer Mitglieder wartete. Plötzlich erschien eine mysteriöse Frau mit einer Nachricht; ein Trupp Milizionäre war wohl bereit anzugreifen. Gegen alle Widrigkeiten und dank einer klugen List verbrüderten sich die verfeindeten Lager, so daß Tanz, Musik, Malerei und Poesie die Waffen ihrer Erlösung und Vergebung wurden. Kindliche Bindungen, Katharsis durch Kunstvergegenwärtigung, Emanzipation des Körpers durchs Hören und generationsübergreifende Vergleiche spielten hier mit. In einem solchen Spiegel stellte die Vereinigung von Männern und Frauen eine metaphorische Transformation von der Unterschiedlichkeit zur Gleichstellung der Geschlechter dar.

Es war letztlich eine Einladung zur Selbstwahrnehmung. Dem entsprach die Kollektion mit ihren „geschlechtsfreundlichen“ Kleidungsstücken. Das Sonett „Le Dormeur du val“ – in deutscher Übersetzung: „Der Schläfer im Tal“ – des französischen Dichters Jean Nicolas Arthur Rimbaud, die Plastiken der französischen Installations- und Konzeptkünstlerin Sophie Calle sowie die intuitive Stärke der serbischen Performanzkünstlerin Marina Abramović waren die Inspiration. Uniformen und zeitgenössische Tanzkostüme wurden neu interpretiert. Die Silhouette ließ dem Körper die freie Schönheit, so daß das Kleidungsstück in der Jazzatmosphäre buchstäblich schwingen konnte. Die Volumen, Faltenstrukturen und Lichteffekte erweckten die architektonischen Stücke zum Leben. Fließende Schurwoll- und Baumwolltuche harmonierten mit technischen Sportkleidungsstoffen. An der Vermischung dunkler und heller Farbtöne beteiligten sich Schwarz, Nachtblau, Rot, Goldbraun und Smaragdgrün.

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