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Scharf, sexy, staubig

Modische Zeitreisen

Omnipräsent – das Mannequin Daniela Aciu vor der Modenschau „Guy Laroche“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 16. Mai 2017
In einer Zeit, wo der Unisexgedanke allgegenwärtig war, entschloß sich das Pariser Modehaus „Guy Laroche“, gegen den Strom zu schwimmen und zu seinen Wurzeln zurückzukehren. Für die Kollektion für den Herbst und Winter 2017/2018 suchte dessen Modeschöpfer Adam Andrascik nach den Vorkommen der Sexiness als Rückgrates der Eleganz. Eine Umschau in den Beständen des hauseigenen Archivs brachte zwei inspirierende Lichtbilder zutage.

Zum einen handelte es sich um das Bild „Nuit Noire en crêpe“ des Photographen Patrick Bertrand, auf dem ein Modell in einem verführerischen, langen, schwarzen Kreppkleide der Couturekollektion aus dem Jahre 1971 zu sehen war. Zum anderen ging es bei dem Bilde „Fourrier prend couleurs“ des Photographen W. Marshall mit einem Modelle in einem Pelzmantel um die Couturekollektion aus dem Jahre 1972. Die neue Kollektion stellte daraufhin einen Rückgriff auf die 1970er Jahre dar, als die Kleider gleichermaßen verführerisch und luxuriös waren, um die weibliche Form zu feiern. Die Dessins waren scharf, ohne minimalistisch zu sein. Die sorgfältig geschnittenen Kleidungsstücke waren stromlinienförmig, um das zeitlose Wesentliche mit einer modernen Note zu versehen.

Die Cocktailkleider waren entweder asymmetrisch mit Trägern oder eiförmig und rückenfrei, wobei der kühne Rückenausschnitt aus der Haut ein graphisches Element machte, welches das Kleid erleuchtete. Die weiten Faltenhosen hatten verschwindende Seitennähte, die in die Hosentaschen mündeten, so daß die Hüften auf natürliche Weise die Kontur der Hose prägten. Die Farbgebung war absichtlich weit weg von den klassischen Primärfarben. So umfaßte die Farbpalette hauptsächlich Stahlblau, Schlangengrün und Leuchtstiftrosa. Diese Juwelen gleichen Farbtöne waren kräftig und dennoch harmonisch geschichtet für ein zeitgemäßes, verführerisches Gefühl. Materialien waren üppige Kaschmirwolle, doppelt verzwirnte Merinowolle, feine Strickwaren, Satinseide, Fuchspelz, Nerzpelz und dreifach geschichteter, schräg geschnittener Chiffon sowie zarte Stickerei. In der ganzen Kollektion, die am 1. März 2017 im Palais de Tokyo präsentiert wurde, wurde Einfachheit durch Subtraktion erreicht, was nach Adam Andrasciks Hoffnung die Trägerinnen im Alltage gewiß werden zu würdigen wissen.

Für ihre neue Kollektion arbeitete die dänische Modeschöpferin Anne Sofie Madsen, in diesem Jahre an der Initiative „SWAROVSKI COLLECTIVE“ beteiligt, mit der dänischen Schmuckgestalterin Vibe Harsloef zusammen. Nach ihrer Ansicht war Staub das feine Pulver, das eine dünne Schicht zwischen der vergeßlichenVergangenheit und der unvorstellbaren Zukunft bildete. Luftige Seide, trüber Samt, trockene Puderbaumwolle und gespenstischer Brokat waren die entsprechenden Materialien. Die Silhouetten der Kleidungsstücke loteten die Grenze zwischen Imaginärem und Realismus aus. Der Schmuck als Teil der gemeinsamen, in der Veranstaltungsstätte „GALERIE NIKKI DIANA MARQUARDT“ gezeigten Kollektion „GHOSTLY MATTER“ spiegelte die Juxtaposition bei der Kleidung wider. Er vereinte Rohes und Unvollendetes auf der einen Seite sowie Raffiniertes und Zartes auf der anderen Seite in sich. Der Gegensatz zwischen der Natur und einer mechanischen Ästhetik war sichtbar in der Kombination von Natursteinen und Hölzern mit poliertem Silber und „SWAROVSKI“-Kristallen. Der Talisman mit seinen vielen Bedeutungen – von Stammesreligionen zu Spielmarken aus Computerspielen – führte als Anknüpfungspunkt zu einer Reihe Schmuckstücke. Vibe Harsloefs Dessinphilosophie war einfach, nämlich zeitgemäße, originelle Accessoires dauerhafter Qualität zu erschaffen. Das Dessin war rein und pur, weil sie mit ihrer mehr als fünfzehnjährigen Erfahrung alles Überschüssige, was den Körper sonst eher akzentuiert denn verschönert hätte, wegließ. In jeder Kollektion ging sie bis an die Grenzen, wo und wie ein Schmuckstück getragen werden sollte, ohne jedoch die Tragbarkeit im Ergebnisse zu beeinträchtigen.

Die neue Kollektion der Pariser Marke „NEITH NYER“ war ein Abbild der Erzählung in dem Buche „MM83“, für das deren Modeschöpfer Francisco Terra geschrieben und gezeichnet hatte, wobei das Kürzel „MM83“ für den Begriff „Migurushii Mirai 83“ stand, was in Japan eine schändliche Zukunft bedeutet. In dieser mangaähnlichen Erzählung ging es um eine Geschichte im verfallenen, phantasmagorischen Tokio in einer chaotischen Zukunft, wo den Menschen keine andere Wahl bleibt, als durch Billigläden zu ziehen und sich aus den Kleidungsstücken ihrer Vorfahren neue Stücke zu basteln. Da paßte es, daß Francisco Terra die Kollektion „Sailor Moon“ gerade in einem Laden der Schnäppchenkette „Guerrisol“ in der Nähe des Revuetheaters „MOULIN ROUGE“ vorstellte. Die meisten Stücke der Kollektion nach der Konzeption, die Linien zu verwischen und das Material eklektisch aufzuladen, gingen auf die fiktiven Charaktere des besagten Buches zurück. Die Gesichter der Rockbands, welche die Charaktere hören, fanden sich in den Drucken auf den Kleidungsstücken wieder. Das ständige Hin und Her zwischen der Fiktion und dem Geschehen auf dem Laufstege sollte eine phantasieähnliche Empfindung hervorrufen.

Die Hakensäume auf einem Teddybärpelzmantel ermöglichten eine Aufteilung in zwei Einzelstücke, so daß eines dieser Stücke als asymmetrisches Cape getragen werden konnte. Nebenbei wurzelte die Kollektion als eine Hommage an die bizarre Nachtlebenszene mit ihrer kraftvollen sexuellen Energie in der Grunge-Kultur. Die käsigen Drucke mit Rosen- und Leopardenmotiven, die mit Latexe gepaarten Rüschen sowie die abartigen, mit Lacke bespritzten Schuhabsätze waren Gegenstände einer überraschenden Wendung, mit der klargemacht werden sollte, was als guter oder schlechter Geschmack zu beurteilen sei. Die Kollektion sollte es ermöglichen damit zu spielen, was die Leute bei der Mode für akzeptabel oder inakzeptabel hielten. Um die Kollektion richtig zu verstehen, galt es sich zu vergegenwärtigen, daß Francisco Terra bis an die Grenzen der Vulgarität ging, indem er dem Ganzen durch prächtige Materialien und elegante Aufmachung eine weitere Wendung, und zwar zum Luxus hin, gab.

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