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Petra von Kants bittere Tränen

Die Mode und die Kinematographie

Ruhe vorn, Bewegung hinten – die Mannequins Sharon Koopman und Ivana Anić vor der Modenschau „mila schön milano“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 14. Mai 2017
Die Begeisterung für die kinematographische Kunst kennt keine Grenzen. Für die Mailänder Marke „mila schön milano“ erklärte deren Modeschöpfer Alessandro de Benedetti für den Herbst und Winter 2017/2018: „Ich bin ein Geschichtenerzähler; Mode ist mein Roman, der Film meine Inspiration.“ Auf dieser Grundlage entwarf er Kleidungsstücke für eine Inszenierung der Schönheit und Eleganz. Das Ergebnis war die Kollektion „Cinema Temptations“, die sich konzeptionell in sieben Sequenzen beziehungsweise Episoden gliederte.

Erstens ging es unter Verweise auf die britische Fernsehserie „THE PERSUADERS“ – in deutscher Fassung: „DIE 2“ – aus dem Jahre 1971 um die Gewandtheit englischer Schneiderkunst. Ideal für eine sinnliche Frau war der dünne Hosenanzug aus Prince‑of‑Wales-Stoffe. Die Kapuzenjacke in Pinselstrichfärbung hatte nur eine Naht auf dem Rücken. Einen burgunderroten und kamelbraunen Dufflecoat gab es kurz oder lang. Für die Daunenjacken hatten die Stoffe entweder ein Jacquardmuster, und zwar aus Astrachanwollgarnen, oder einen Druck in Gestalt vorzüglicher roter Kirschen. Zweitens stand der Spielfilm „MY OWN PRIVATE IDAHO“ des amerikanischen Regisseurs Gus Green Van Sant, jr., aus dem Jahre 1991 Pate für die mit Mohairfelle gefütterte Jeansjacke aus puderrosa Crêpe sablé, die mit einem Faltenrocke kombiniert wurde. Ansonsten tauchte ein Gepard auf einem Mantel für einen Trompe‑l’œil-Effekt auf. Drittens deuteten die lockeren und bequemen, riesigen Pullover mit Seidenstickereien in Gestalt eines Punktekomplexes auf die Spuren des Agenten James Bond bei einer Skifahrt in St. Moritz hin. Mohairfell war das Material für einen Cardigan, wohingegen der Mantel mit einem Kunstpelzkragen aus Astrachanwolle war. Das Kleid aus einer Chiffon-Lurex-Mischung ähnelte einem Strickkleide.

Viertens zeigte sich die Vorliebe der amerikanischen Schauspielerin Constance Frances Marie Ockelman alias Veronica Lake Vorliebe für lange, schmale Silhouetten in der Kollektion an den Kleidern mit eingelegten Falten, die sich bei der Bewegung freilegten. Zur Ausschmückung dienten Tiermuster, Tupfen- und Kirschmotive. Für die Eleganz der amerikanischen Schauspielerin Grace Patricia Kelly standen Stiefel mit Bleistiftabsatze und delikate Decolletés. Fünftens erinnerten Herzen und Hasen als Druck auf einem Body aus Stretchsatinseide, der unter einem strengen, aber sehr sinnlichen schwarzroten Damenkostüme mit rosa Nadelstreifen getragen wurde, der Rolle der amerikanischen Schauspielerin Kim Novak als geheimnisvoller Schönheit im Spielfilme „VERTIGO“ des britischen Regisseurs Alfred Hitchcock aus dem Jahr 1958. Ohrringe in Gestalt von Facettenherzen und farbigen Kirschen kamen hinzu. Sechstens gingen die Farben der Kollektion auf die italienische Schauspielerin Virna Lisa Pieralisi alias Virna Lisi im Spielfilme „LE DOLCI SIGNORE“ des italienischen Regisseurs Luigi Zampa aus dem Jahre 1968 zurück. Klassische Wintertöne wie Schiefergrau und Bordeauxrot gingen einher mit Tönen des Erblühens wie sattes Grün, Lavendelblau, Senfgelb und Kaugummirosa. Siebtens erklang während der Vorführung der traumhaft-verspielten Kollektion am 27. Februar 2017 in der Veranstaltungsstätte „SPAZIOBERGOGNONE26“ als Hinweis auf die Beteiligung des amerikanischen Regisseurs Steven Spielberg am Episodenfilme „TWILIGHT ZONE THE MOVIE“ aus dem Jahre 1983 ein rhythmisches Mantra mit sich abwechselnden französischen und japanischen Farbbezeichnungen.

Ausgangspunkt der Kollektion „METALLIC VELVET“ des Modeschöpfers Alberto Zambelli aus Polpenazze del Garda in der Lombardei war der Spielfilm „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ des deutschen Regisseurs Rainer Werner Fassbinder aus dem Jahre 1972. Nachdem sich Alberto Zambelli mit der Intimität der Dialoge befaßt sowie in den Bildsequenzen eine Balance zwischen Theatralik und Kinematographie entdeckt hatte, faßte er das Werk auf als eine persönliche Sicht auf die Welt der Frauen, in die er sich gerne wegführen ließ. Die daraufhin im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci gezeigte Kollektion enthielt gut geschnittene mokkabraune Mäntel, welche die Linearität der fleischfarbenen Petticoatkleider, deren unregelmäßige Falten silberne Klebebänder wie eine ausgestopfte Plumage in Position hielten, umhüllten. Samt mit romantischen Mustern ließ an ein Gewirr aus Rosen denken. Der Geruch alter Spitze war nicht fern. Elastische Seile stammten aus der Welt des Sports. Handwerkliche Nähte und Details aus dreidimensionalen Bögen unterstützten die mit Silber beschichteten Intarsien in geometrischen Formen.

Handwerkskunst und moderne Technologie gingen Hand in Hand bei den großen Pullovern aus thermogeformter, blumiger Merinowolle. Als Schriftzug befand sich der poppige Kollektionsslogan auf den synthetischen Flächen der Bänder an den T‑Shirts. Über die Drapage mit Neoprenmiedern hinaus enthielten fließende synthetische Oberflächen Drucke aus zerlegten Polaroidbildern. Chiffon und verglastes Polyvinylchlorid (PVC) als Vertreter der Natürlichkeit und der Künstlichkeit begegneten sich, mit Streifen wie Teppichen zusammengehalten, an Kleidern und Rüschenmänteln. Intarsien in verschiedenen Größen milderten die Strenge der Shirts aus weißem Baumwollpopeline. Bänder mit winzigen Kristallen, die als Gürtel oder Hosenträger dienten, betonten die Schultern und Hüfte, während sich Tüll und Neopren regelrecht überlappten. Die Farbpalette umfaßte noch Holzbraun, Lavendelblau und Schwarz. Weitere Materialien waren Leinen und Seide. Für die Länge der Kleidungsstücke galt der Fußknöchel als Grenze. Die Silhouette prägte vor allem die A‑Linie. Das Schuhwerk bestand aus Neoprenstiefeln. Accessoires waren Nerzpelzschals, Hüfttaschen und Rucksäcke.

Zu der Kollektion „Silence is Sexy“ seiner Marke „RICOSTRU“ inspirierte den chinesichen Modeschöpfer Rico Manchit Au sein Lieblingslied gleichen Namens der deutschen Post-Industrial-Band „Einstürzende Neubauten“ aus dem Jahre 2000, in dem es auf Englisch hieß: „Stille ist sexy, Stille ist sexy, so sexy, so still“. Die tiefe Stimme des Sängers Blixa Bargeld, die neben den Klängen der E‑Gitarre und weiteren, industriellen synthetischen Klängen zu hören war, begeisterte Rico Manchit Au. Er spürte es, wie Geheimnis, Unruhe, Sexualität und Arroganz die Liebe und Einsamkeit im Herzen des Sängers füllten. Der scharfe, subtile Klang entzündete und erhitzte mit flackernden Flammen sofort den einsamen, ruhigen Raum. Rico Manchit Au stellte sich ein minimales, psychedelisches Rockmädel mit ruhigem, warmem Herzen, auf einer surrealen Bühne mit weicher Stimme singend, vor. Aus der Musik extrahierte er eine „psychedelische und ruhige Sprengkraft“ als spirituellen Kern der Kollektion, um sie in eine minimale und sexy Dessinsprache umzuwandeln.

Der „Retro“-Stil der Rock-Bands in den 1980er Jahren brachte Anzüge mit großer Silhouette, Herrenhosenanzüge, Lederjacken, Hosen samt Hosenträgern mit V‑Ausschnitte, Gürtel und Schals hervor. Das industriell klingende Musikinstrument war die Inspiration zur farblichen Abstimmtung der Kleidung. Die hellen Farbtöne wie metallisches Silber, Rostbraun, Zementgrau und mattes Schwarz sorgten für eine futuristische Wirkung. Von Hand gefertigt, ermöglichten innovative Technikmaterialien die von einem wegweisenden, zarten Kabel inspirierten dekorativen Details. Mit der für Rico Manchit Au typischen skulpturalen Bekleidungsmethode wurden die Hauptelemente der Kollektion zerlegt, deformiert und umstrukturiert, um den Charakter der „Schönheit der Stille“ von innen nach außen zu formen. Die Kollektion stellte er im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci vorgestellten Kollektion vor.

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