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Skulpturale Kleider

Die Mode und der Kalte Krieg

Bibliophile Mode – die Modenschau „GIADA“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 14. Mai 2017
Der Minimalismus ist ein häufiges gestalterisches Prinzip in der Bekleidungsmode. Bei der Kollektion der Mailänder Marke „GIADA“ für den Herbst und Winter 2017/2018 sollte er sich mehr skulptural als ätherisch an Formen und Farben zeigen. Die Verschmelzung strenger Ästhetik und künstlerischer Leidenschaft ergab beim Modeschöpfer Gabriele Colangelo fließende Dessins, denen eine Gegenüberstellung der Strenge und Geschmeidigkeit dennoch nicht fehlte. Die Kleiderentwürfe waren so kurvenförmig wie die Gemälde der deutschen Malerin Katrin Bremermann wie auch so gewölbt wie die Skulpturen des amerikanischen Architekten und Gestalters Charles Ormand Eames.

Vollkommenes Geschick zeichnete die am 26. Februar 2017 im Palazzo di Brera, genauer gesagt in der Braidensischen Nationalbibliothek, präsentierte Kollektion aus. Doppelte Kappnähte mit feinster Steppung verschönerten die unmerkliche Struktur der subtil luxuriösen Kollektion. Bei der Materialauwahl kam es auf unauffällige Weichheit, Hautnähe und Weiblichkeit an. Ein Hauptmaterial war Wolle. Eine Mischung aus Kaschmir- und Mohairwolle hüllte den Körper in kunstvoll gebürstete, hauchdünne Kleidungsstücke mit Felle in Degradéfärbung im Innern. Ein sehenswertes Detail boten die feinst gefalteten Seidenröcke mit ihren Strickauflagen. Ein anderes Hauptmaterial war Leder. Butterweiches Wildleder machte ein Hemdkleid kaum fühlbar. Es fand sich auch an einer Doppelweste mit aufgerauhten Revers. Wildlederstreifen befanden sich auf Kleidern aus plissierter Crêpe Georgette, wobei das Plissee ohnehin eine hypnotische Wirkung entfaltete. Eine faszinierende Wirkung übte, davon abgesehen, die zweifarbige Seidengeorgette, auf beiden Seiten gefaltet und bedruckt, zusammen mit dem kontrastierenden, in dem für die Modemarke typischen Grau gehaltenen Hintergrunde aus. Trügerisch luxuriöse Materialien waren überhaupt das Merkmal der Kollektion.

Rasierter, samtartiger Nerzpelz kam bei kurzen, in Riemen verwandelten Röcken und tief ausgeschnittenen Tunikakleidern mit drapierter Rückenseite vor. Darüber hinaus bereiteten Ärmel und Schulterpartien mit modernsten Volumen sowie atemberaubende Rückenseiten der Kultur des Kimonos ein neues Terrain. Ferner tauchten kleine Capes in T‑Linie, Röhrenhosen mit Schlitzen an der Ferse und knöchellange Hosen mit einer weichen Mittelfalte auf. Weiß, Grau, Marineblau, Sturmblau, Olivgrün und Terrakottabraun waren klassische Farbtöne, denen gegenüber Rot und weitere Grüntöne für Akzente sorgten. Wohlgeformte Schuhabsätze hatten ein nach oben hin wellenförmiges Dessin für einen Chiaroscuro-Effekt. Die skulpturale Ästhetik galt ebenfalls für die kleinen henkellosen Handtaschen, die entweder ein unverkennbares Muster aus Wildleder hatten oder mit einem Porzellaneffekte endeten. Die ikonische „GIADA“-Tasche, auf der Rückseite handbestickt, hatte eine neue Kübelform. Die neue Handtasche, die ihr Dasein einem einzigen Abnäher verdankte, konnte mit einem Drachenhaken über der Schulter getragen werden. Porzellan oder Gußharz mit Goldeinlage waren die Materialien für die tragbaren skulpturalen Juwelen in kurvigen, von den Skulpturen der britischen Bildhauerin Barbara Hepworth inspirierten Dessins.

Die Modeschöpferin Stella Jean aus Rom wagte sich mit ihrer im Palazzo dei Tessuti gezeigten Kollektion „COLD WAR“ an das Thema des Kalten Krieges heran. Für sie standen nach dem Falle der Berliner Mauer immer noch zu viele Barrieren, welche die Rechte und Freiheiten der Völker und Kulturen verletzten. Insofern kündigte sie Widerstand an gegen diejenigen, die gerne Schach spielen mit Menschen als Spielfiguren nach der altbekannten Devise „divide et impera“. Eingedenk ihrer kreolischen Herkunft war für sie Mode abseits der Ästhetik ein Werkzeug der Gegenkolonisation, ein Ausdruck der Befreiung und ein Zeichen für Wachstum. Wie in der rätselhaften Geschichte des Kalten Krieges standen sich in der Kollektion die Machtblöcke gegenüber. Den Westen repräsentierten modische Elemente aus der Welt des Militärs, namentlich Applikationen in Gestalt von Besatzstreifen, Rangabzeichen und Medaillen. Den Osten symbolisierten figurativen Drucke und Handmalereien mit Motiven aus der russischen Kultur. Die militärisch anmutenden Applikationen befanden sich an Blusen und Shirts aus klassisch karierten Hemdenstoffen. Fransen, Schnüre und Pompons schmückten Jacken, Mäntel und Röcke. Die Röcke und kurzen Abendkleider waren bedruckt oder bestickt, während ein langes Abendkleid edle Manschetten und einen edlen Kragen hatte, welche abnehmbar waren. Die über dem Busen endenden Kleider konnten auch als bloße Röcke getragen werden, was deren Vielseitigkeit und hoher Funktionalität, einer Notwendigkeit in Konfliktzeiten, entsprach. Die Drucke auf manchen Pullovern waren in russischer Art naiv-figurativ. Andere Pullover waren mit militärischen Rangabzeichen und Medaillen bestickt. Weitere Pullover enthielten ebenso wie einige Kleider und Tops eine Rundstickerei um den Hals.

Ökologischer Nerzpelz fand Verwendung sowohl an Jacken und Mänteln mit kontrastierender, feiner Rippenstruktur und Yorùbá-Motiven als auch an Jacken und Mänteln mit Besätzen und Medaillenapplikationen; bei den letztgenannten Stücken war gescheckter ökologischer Pelz eine Alternative. Eine im „Barbour“-Stile gewachste Stoffjacke mit Medaillenapplikationen und eine gesteppte Samtüberjacke mit Yorùbá-Motiven waren ferner in der Kollektion vorhanden. Die festen Stoffe für Hosen hatten oft ein Glen-check-Muster. Radfahrertrikots und Strickkleider wiesen als Stickerei den Schriftzug „One, No One and One Hundred Thousand Kilometres“ auf. Dabei bedeutete die Angabe „Eins“, daß die Menschen von ihrem Geburtsorte aus im Wissen der Tradition den Blick auf die Zukunft richten sollten. Die Angabe „Keiner“ deute auf die Reise ins eigene innere Wesen auf der Suche nach Erinnerung hin. Die Längenangabe betraf den weiten Weg, um auf die Kulturen und Geschichten entfernter Menschen zuzugehen für einen Austausch mit dem Ziele, die Traditionen der örtlichen Gemeinschaften und den unendlichen Reichtum an altem, vom Aussterben bedrohten Wissen zu bewahren sowie die katastrophalen sozialen Probleme zu lösen. Die Silhouetten waren fließend, mal eher maskulin, mal eher „ladylike“. Materialien waren polierte Baumwolle, Flanell, Leinen, Crêpe de Chine und Mikadoseide. Alle handgefertigten Strickstücke waren in Umbrien von ortsansässigen Handwerkern bestickt worden. Über diese Wollgarnstickerei hinaus existierte Stickerei mit 3D‑Elementen wie Pailletten und Perlen.

Lamination war eine weitere Veredelungstechnik bei den Stoffen. Die Farbpalette umfaßte gesättigte Rot-, Grün- und Blautöne sowie Schwarz, Grau, Rostbraun, Rot, staubiges Rosa, Militärgrün und Gold in winterlichen Schattierungen; hier galten die Gedanken der Aurora Borealis und den sibirischen Winden mit der Erkenntnis, daß der „Kalte Krieg noch nie so kalt“ gewesen war. Manche Drucke hatten Wachs- und Kente-Motive. Es gab noch Drucke mit russischen Hahn- und Blumenmotiven, die einen Kreuzsticheffekt hatten, und mit russischen Volants. Das Schuhwerk bestand aus Boxstiefeln mit Absätzen, Schnürsenkeln und kontrastierenden Profilen, regenfesten Galoschen, flachen Gurtsandalen mit Kontrastprofilen sowie Tanzschuhen aus Satinseide mit Absätzen. Die Nerzpelzgürtel hatten Besätze und Pompons. Die henkellose Handtasche „Propaganda“ hatte eine besondere Geschichte. Eine Schachtel für das in Syrien beliebte Backgammonspiel, die für die vor der Zerstörung fliehenden Menschen ein leichtes Reisegepäck und auch ein Symbol der Widerstandsfähigkeit und Hoffnung gewesen war, hatte die in Damaskus tätige Modeschöpferin Asaad Khalaf zu dieser Handtasche inspiriert. Die in einer Handwerkswerkstätte in Damaskus hergestellte Tasche gelangte, in einem Übernachtungswagen verborgen, nach Beirut und setzte danach ihren Weg – eine Strecke von insgesamt 3.689 km – nach Mailand fort. Sie war für Stella Jean das Sprachrohr einer Kultur, die nicht erliegen wollte, und zugleich ein Mittel der Völkerverständigung. Die Accessoires erweiterten eine auf eine Frühstücksbox zurückgehende Tasche und ein rechteckiger Rucksack.

Der portugiesische Modeschöpfer Pedro Pedro stand vor der Frage, ob in einer wütenden, unruhigen Welt die Formen in den Skizzen weiterhin unverändert zu sicheren Modellen führten. Zugleich frug er sich, ob in einem zunehmend technologischen Universum ohne Grenzen Schutz und Rückbesinnung nötig seien. Dieser Punkt rief verformte Formen, umgewandelte Funktionen und überzogene Details hervor, was dann zu bizarren Kleidungsentwürfen führte. Durch Dekonstruktion und Verfremdung erneuerte Basisstücke sollten die unbekannten, rasenden Zeitgenossinnen in vielfältiger, eklektischer Weise kleiden. Übertriebene Volumen, asymmetrische Schnitte und hyperbolische Abschlußdetails, welche die Stücke individualisierten, gaben ihnen wie eine Bienenwabe ein schützendes Aussehen. Ein Kennzeichen der Kollektion „LA MER QU'ON VOIT DANSER“ war die Dominanz von technischen Materialien, Gummis und Stoffen mit wasserdichten und duroplastischen Außenseiten, die mit gewachster Baum- und Merinowolle kombiniert worden waren. Die Gummistiefel standen für das Fischen im Meere als Metapher für die Ungewißheit der Zeit. Die Farbpalette der im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci vorgestellten Kollektion umfaßte Königsblau, Flaschengrün, Rot, Weiß und Schwarz.

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