MODE UND KULTUR

Zeit, daß sich ’was dreht

Surrealismus in der Mode

Fertig für den Auftritt – zwei Mannequins vor der Modenschau „VIVETTA“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 6. Mai 2017
Manchmal ist es Zeit, etwas zu verändern. Dies dachte sich auch der Modeschöpfer Manuel Facchini für die Kollektion der in Bussolengo nahe Verona beheimateten Marke „byblos“ für den Herbst und Winter 2017/2018. Er stellte sich eine Reise mit einem Motorrade vom Herzen New Yorks mit den funkelnden Lichtern in Brooklyn und den kräftigen Farben der Wandmalereien in Williamsburg an die kalifornischen Küste mit ihrer berauschenden Atmosphäre und den sich unentwegt verändernden Farben vor. Der Rausch der Geschwindigkeit befeuerte den „Biker“-Geist, der dann in den Kleiderentwürfen Gestalt annahm.

Unter dem Motto „DESTINATION ANYWHERE“ brach Manuel Facchini die Grenzen zwischen „Streetwear“ und feiner Schneiderei auf, so daß sich „High Tech“-Einsätze, aufwendige Stickereien und avantgardistische, experimentelle Graphiken zu einer fließenden Couture gegenseitig befruchten konnten. Die winzigen geometrischen Formen der Jacquardstoffe ließen an Kreise denken. Stickerei mit geraden Streifen wie einer Mittellinie öffnete sich in Rüschen. Die Übergröße der Parkas erzeugte „Street-Style“-Vibrationen; zusammen mit Streifen brachte sie einen neuen Druck hervor. Das Fell war mit metallischer und bunter Farbe besprüht, um auf ironischer Weise albern zu wirken. Blau, Rot, Blaßrosa, Weiß und Schwarz in kräftigen Farbtönen ließ die Mohairwolle mit Orangefarbe spielen. In der Zusammensetzung mit einem kontrastfarbenen 3D‑„Ökoleder“ entstand ein Steppeffekt. Luminosität erzeugte ein Feuerwerk auf den Strukturen. Polyestereinlagen beleuchteten Seide und bewirkten einen Glänzend-matt-Effekt auf den überall plazierten Drucken. Die reinen, klaren Linien der Mäntel und Perfektojacken brachten übertriebene Volumen und ungewöhnliche Details, die von den Farben sozusagen entflammt wurden, hervor. Für das „Uptown Girl“ auf dem Motorrade leuchteten die Stickereien wie Verkehrsampeln auf. Die „Girlie“-Linien waren niemals das, was sie schienen. Der neue „Biker“-Stil war trotz seiner Dynamik entschieden feminin. Luxus bei Kleidern, Röcken und Hosen war akzeptabel, was laut Manuel Facchini die neue Alltagsästhetik eines „Hightech-Chic“ zwischen Gegenwart und Zukunft bedeutete. Die Modelle vom Klassiker bis zum Unkonventionellen der am 23. Februar 2017 im Palazzo Serbelloni in Mailand gezeigten Kollektion ließen einen zeitgemäßen guten Geschmack erkennen.

Für die neue Kollektion der Marke „San Andrès MILANO“ begab sich der Mailänder Modeschöpfer Andrès Caballero aus Mexiko ebenfalls auf eine gedankliche Reise, und zwar auf eine surreale, traumhafte, intime Reise. Er suchte die Orte der Macht und der visionären Künste des aztekischen Mexikos auf und stieß dort auf Hellseher mit Ritualen und propitiatorischen Zeremonien zum Anrufen der Natur und lokalen Geister. Unter dem Motto „SUEÑO SURREALISTA“ bekleidete er zwölf eiserne Mannequinskulpturen mit Kleidern und stellte sie dann in einem erleuchteten Kreise im Spazio Cavallerizze des Nationalmuseums der Wissenschaft und Technologie Leonardo da Vinci auf. Die Wirkung, die von einem solchen Kreise ausgeht, nämlich eine positive, lebendige Energie und eine Stimulanz aller Sinne, ist auch den Europäern nicht fremd, wenn man beispielsweise an die steinerne Anlage in Stonehenge denkt. Für Andrès Caballero stand die Energie im Zusammenhange mit den alten Toltec-Kriegern, die sich nunmehr in Schamanendämonen verwandelten. Die eigens für die Modepräsentation am 24. Februar 2017 komponierte Musik prähispanischer Art mit elektronischen Klängen sorgte für die richtige Atmosphäre. Surreale florale Jacquardmuster auf leichtester Seide dominierten die Kollektion, die sich auf dem schmalen Grate zwischen Realität und Spiritualität bewegte. Trapezförmige Kleider aus diesen Jacquardstoffen mit breiten Glockenärmeln wurden kombiniert mit Taftblusen und drapierten Röcken. Darüber lagen übergroße Capes aus Mohairwolle mit Pelzeinsätzen, und zwar mit einer entspannten und breiten Paßform, als ob die Capes luxuriöse Bademäntel wären. Auf allem schimmerten die Stickereien mit „SWAROVSKI“-Kristallen. Kornblumenblau, mexikanisches Rosa, Mandaringold, Silber, Steingrau und Pechschwarz bildeten die Farbpalette, die den Sonnenuntergang in einer mexikanischen Landschaft wiedergab.

Bei der Kollektion „ENDURANCE“ der Marke „CORIAMENTA“ ging es um Beständigkeit, Geduld und Ausdauer. Eine fein austarierte weibliche Männlichkeit führte zu einem androgynen Dessin des Schuhwerkes. Die Chromdetails ließen die Sportlichkeit feminin erscheinen, was die Stiefel „ENDURO BOOTS“ sexy machte. Die Stiefel „BIKER BOOTS“ aus ungewöhnlichen Ledern hatten ebenfalls Chromdetails, wohingegen die Stiefel „HERDSMAN BOOTS“ im Paninaro-Stile gehalten waren. Pumps, Sandalen und Stiefel bis zum Oberschenkel hatten Pfennigabsätze. Das Chrom kam in den Farbtönen Pflaumenblau, Blutrot, Fuchsienrot, Glycerinweiß, Staubgrau und Asphaltgrau vor. Weitere Materialien waren Kalbs-, Hirsch-, Nattern- und Matelassé-Nappaleder sowie Kunstpelz. Neben Plastikreißverschlüssen waren die Schnallen mit dem Markenlogo „CA“ ein besonderes Kennzeichen der Kollektion, welche die italienische Modeschöpferin Cori Amenta am 23. Februar 2017 im Schauraume „C Divertiamo“ vorstellte.

Gleichenorts war die Kollektion „Swinging London“ der Marke „RAYNE“ zu sehen. Die Hommage an die 1960er Jahre als goldene Ära der Marke war die Folge dessen, daß der Modeschöpfer Nicholas Rayne das Markenarchiv auf der Suche nach Anregungen durchforscht hatte. Die für die Marke typischen Mokassins standen erneut im Mittelpunkte. Darüber hinaus erschien der Diaboloabsatz, der in der letzten Saison wiederentdeckt worden war, in anderer Form, nämlich mit quadratischem Abschlusse, und aus anderen Materialien wieder. In einer Höhe von 5 cm. hing er an den eleganten Pumps, Stiefeletten und Stiefeln, wohingegen er an den romantischen Ballerinas, Mary-Jane-Schuhen und Spangenschuhen nur 2 cm hoch war. Strass-Steine zierten einige Absätze wie in den 1950er Jahren. Metallschlaufen, die wie Origami gefertigt worden waren, ergaben mit Nattern-, Wild-, Lack- und Nappaleder einen rockigen Materialmix. Das Natternleder in metallischen Farbtönen leuchtete besonders auf. Überhaupt standen dunkle Töne wie Schwarz, Marineblau und Karmesinrot hellen Tönen wie Rosa, Senfgelb, Gold und Silber gegenüber. Die Kollektion war letztlich eine Mischung aus englischer Tradition und Popkultur.

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