Der Pariser Modeschöpfer Christophe Guillarmé suchte sich für seine Modepräsentation wieder die Tanzbar „Balajo“ aus. Ursprünglich für den amerikanischen Schriftsteller Ernest Hemingway im legendären Club des Hotels „RITZ“ an der Place Vendôme kreiert, sollte das Getränk „Bloody Mary“ nunmehr die Sinne erwecken, um die Kollektion „Bloody Madone“ in eine ambivalente, scharlachrote Stimmung einzutauchen. Idealerweise war die „kantige, aber okkult erscheinende, geheiligte Werbebotschafterin“ ein stilvolles Gespenst. In diesem Sinne lautete für Christophe Guillarmés Kleidungsentwürfe das Rezept: „Retro-Glam“. Während eine Trägerin wie der Kultstar Madonna weiße, gefaltete Spitze und blumige Drucke vorzeigte, vergnügte sich ihr Alter Ego im Spiegel in einem langen, silbernem Seidenbrokatkleide mit Schleppe oder in einem weißen, mit roten Blumen bedruckten Maxikleide aus Seidenmikado. Eine ätherische Meerjungfrauensilhouette und eine schwarz-weiße Farbmixtur ließen ein brandneues Vokabular für eine „verhängnisvolle Robe“ erkennen. Von einem Falle der Midilänge abgesehen, hatten die Cocktailkleider eine Minilänge, während die Abendroben bodenlang waren. Satinseide und Scuba waren oft bedruckt; die Muster waren blumig oder in „Polka Dot“-Art gepunktet. Wenn die Oberteile mancher Kleider nicht aus weißer, silberner oder goldener Spitze waren, wiesen sie Stickereien mit Stoffäden, Pailletten, Kristallen oder Steinen auf; in Umkehrung war einmal nur das Rockteil aus Spitze. Weitere Materialien waren Duchesseseide, Seidenorganza, Seidenjacquard, durchsichtiger Tüll, Jersey und „Tech Mesh“. Die Farbpalette umfaßte Schwarz, Weiß, Mohnrot, Fuchsienrot, Orange, Champagnergelb, Meergrün und Violett in Lavendeltönung.
Ein Neuling war ebenfalls das kreative Kollektiv „WE ARE MUZE“ aus den Niederlanden, das sich erstmals in Paris vorstellte. Es handelte sich um eine Plattform für den Wissens- und Erfahrungsaustausch unter Modeschöpfern aus den Bereichen der Bekleidung und des Schmuckes – kraft multidisziplinären Ansatzes auch für Photographen, Filmemacher, Graphiker und Tänzer offen –, um sie sozusagen als Muse mit kreativer Kraft auszustatten, das heißt ihre Sinne zu schärfen und ihre Phantasie anzuregen. Dem lag der Gedanke des Reichsdienstes für Unternehmen der Niederlande (RVO) zugrunde, die heimische Modebranche bei ihren Aktivitäten in Frankreich im Rahmen eines „International Business“-Programmes zu unterstützen. Am 29. September 2016 zeigten in der Botschaft des Königreiches der Niederlande, dem Hôtel d’Avaray, vier Modeschöpferinnen ihre jeweilige Kollektion in einem intimen, stilvollen Ambiente mit üppigen malerischen Effekten. Melanie Brown setzte mit ihrer Marke „BYBROWN“ für eine rohe und zeitgenössische Eleganz auf eine Verbindung aus Maßschneiderei und konzeptioneller Technik. Für Conny Groenewegen mit ihrer Marke „ELECTRIC CO“ sollten die Nähte beweisen, daß Fasern und Fäden ihren eigenen Weg gefunden hatten und eigenen Regeln gefolgt waren. Voller Faszination bekräftigte Jessica Joyce ihren abstrakten Stil mit modernen, eckigen geometrischen Formen. Natascha Nedoluha feierte mit den rau belassenen Schmuckstücken ihrer Marke „LoveLuha“ die kreative Kraft der Natur.
Auf exakter Wissenschaft und auf Science-Fiction beruhte die Kollektion „M (ESSIE-R) 87“ der Marke „COPPÉLIA PIQUE“, bei der sich alles um eine gesellschaftspolitische Metapher und eine nachhaltige, futuristische Utopie drehte. Impulse gingen auch vom Meisterwerke der hellenischen Skulptur „Die Göttin des Sieges von Samothraki“, der Darstellung einer geflügelten Frau, aus; durch ihre weiblichen Attribute und imposante Kraft trug die Universalität zur Transversalität von Genres und der Schöpfung bei. Sowohl die Volumen und Rhythmen als auch die angewandten Techniken erzeugten visuelle Effekte wie Lichtspiele, Levitation, Trompe-l’oeil-Effekte und Falten, die ein Gleichgewicht zwischen Moderne und Raffinesse wiederspiegelten, während die Silhouetten den Gesetzen der Schwerkraft zu trotzen schienen. Durch die spezifischen Stellen der Öffnungen und der Falten, die das Gewebe zurückhielten, setzten die meisten architektonischen Stücke der Kollektion das Leben buchstäblich in Bewegung. Durch eine Vernichtung, aus welcher sonst supermassive Wirbel entstehen, erreichten die strukturierten Schnitte und konkaven Formen das höchste Maß kreativer Energie.
Nach Ansicht der Modeschöpferin Axelle Migé aus Vincennes traten hier diejenigen unerforschten, ewigen Kräfte zutage, in deren Händen Sterne und Konstellationen sterben und wiedergeboren werden. Die Farben bewegten sich in einem weltraumartigen Chiaroscuro; elektrisches Indigoblau traf auf Rot und metallische Töne. Die fließenden Stoffe, nämlich Strickwaren, reine Baumwolle und beschichtete Baumwolle, symbolisierten die terrestrische Extraktion, während die technischen Stoffe aus der Sportbekleidung und von Regenmänteln sowie der metallische Feinschliff die Fähigkeit ausdrückten, mit Hilfe der Wissenschaften „himmlische Objekte“ zu erschaffen. Bei einer derartigen inhaltlichen Aufladung verwunderte es nicht, daß die Kollektionsstücke auf der Modenschau in der Galerie „ERCO“ nicht von üblichen Mannequins vorgeführt, sondern von Tänzern regelrecht vorgetanzt wurden; die passende musikalische Untermalung besorgte dann gleich eine Cellistin.