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Aufforderung zum Tanze

Mode als Vehikel der Schönheit

Aufkommende Dynamik – die Mannequins Josiane Monteiro, Marta Pawłowska und Laura Marazzi vor der Modenschau „LEITMOTIV“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 7. November 2016
Nachdem die Modeschöpferin Simonetta Ravizza mit ihren Pelzen am 24. September 2016 Tierschützer gegen sich aufgebracht und dadurch die Verhältnisse in Mailand zum Tanzen gebracht hatte, ging es bei der Modenschau der Marke „LEITMOTIV“ im Palazzo Reale auch ums Tanzen. Die Kollektion „DEER DANCE“ war eine Hommage an die Natur und Kultur Mittelamerikas, insbesondere an die Überlieferungen der Navajo-Indianer und die präkolumbianische Kunst. Zwei Spiegeltüren zum Laufstege deuteten auf ein ständiges Kommen und Gehen hin; damit hießen die Bologneser Modeschöpfer Juan Caro und Fabio Sasso ihre Gäste willkommen zum Tanze, „wo alles zirkuliert“.

Alles begann mit einer den indianischen Volkstänzen und feierlichen Opfertänzen gewidmeten Herren-Vorkollektion mit Quasten und Kordeln als Ausschmückungen. Bei der Damenkollektion gab es endlich einen Einfallsreichtum, um aus Pflanzen und Tieren sowie architektonischen Elementen wie Kirchen, Häuser, Hütten und ganzen Dörfern in einer Folge Bildmosaike zu komponieren, wobei auch Verweise auf Wandbilder nicht fehlen durften. Für das kreative Duo herrschte Phantasie gerade dort, wo sich die Natur mit architektonischen und geometrischen Elementen mischte. Neben Palmen, Kakteen und weißen mexikanischen Gebäuden unter dem Sternenhimmel war der Mond über gestrichelten Seen sonnengelb in der Art des italienischen Musikers, Schriftstellers und Regisseurs Luciano Ligabue. Der für die Modemarke typische Hirsch erschien nicht mehr zwischen Bergen und Bächen, sondern ein Bighorn-Schaf mit Federn, Bögen und Pfeilen in der Wüste rückte nun ins Zentrum. Der Papagei war ein bißchen Amazone, ein bißchen Apachenkrieger. Mit dem menschlichen Auge und geraden Graphiken symbolisierte die Adlerfeder die Sonne. Es war seit jeher ein distinktives Merkmal der Modemarke, gleichsam ihre „DNA“, die reichhaltige Fauna mit neuen, imaginären Tieren zu bereichern.

Tagsüber sollte beispielsweise ein ein dank etlicher Motive kunterbunter Hosenanzug, eine bestickte Bluse in Kombination mit einem bestickten Bleistiftrocke, ein besticktes Netzshirt in Paarung mit engen, bestickten Shorts oder ein einfarbiges Eine-Schulter-Top zusammen mit einem andersfarbigen, bodenlangen Rüschenrocke getragen werden. Lange Volantröcke und kurze, halbe Reifröcke erweiterten darüber hinaus die Verschiedenheit der Volumen. Wellenförmige Einsätze belebten zusätzlich die Silhouette. Die Abendkleider waren gestuft, plissiert, mit Pailletten bestickt oder mit einer riesigen Rüsche verziert. Tiefe V-Ausschnitte, Schulterfreiheit, Rückenfreiheit und transparente Materialien machten sie äußerst verführerisch. Duchesse-Seide und dreifacher Seidenorganza waren bestickt und gesteppt. Das Wirken des russisch-französischen Malers Marc Chagall im Bereiche der Postkunst (Mail Art) inspirierte die Modeschöpfer zur Farbpalette ihrer neuen Kollektion; die Farbtöne waren so hell und brillant wie in der Welt der Briefmarken: Weiß, Rot, Gelb, Grün und Elektrischblau. Das Schuhwerk bestand aus herrschaftlich bestickten Mules und sexy Plateausandalen mit Knöchelriemchen. Nach Juan Caros und Fabio Sassos Ansicht wurde ihre spielerische und verführerische Zielgruppe zusehends anspruchsvoller; insofern sollte die neue Kollektion für den großen Ball in einer Blüte voller Flocken explodieren.

Der Modeschöpfer Ermanno Scervino aus Grassina nahe Florenz widmete sich der Schönheit. Für ihn war sie unleugbar, immer erkennbar, nie nostalgisch, und zwar als Thema nicht nur in der Gegenwart aktuell, sondern auch in der Zukunft. Seine im Palazzo Serbelloni gezeigte Kollektion „BEAUTY FIRST“ erhielt dank einer akribischen Aufmerksamkeit bei den Details der Kleiderkonstruktion und der Materialauswahl einen kontinuierlichen Schub in Richtung auf die objektive Schönheit. Im Dienste der Schönheit stand auch die zeitgenössische, durch einen kontinuierlichen Prozeß des Experimentierens verfeinerte Kunst des Schneiderhandwerkes. Das für Ermanno Scervino typische Merkmal der gefalteten Spitze erschien nunmehr durch Verarbeitung in eine Wabe mit modernsten Schneidertechniken moderner. Vertikale und horizontale Linien wurden zusammengefügt, um neue optische Effekte zu erzeugen. Overalls aus ökologischem Leder und Jacken gaben den Körpern die Silhouette von morgen. An einen Art-Nouveau-Stil der Zukunft dachte Ermanno Scervino, als er die Anzüge, die entweder gänzlich weiß waren oder mit einem tierischen Muster auf Astrakhan-Stickerei bedruckt waren, mit floralen Schmucksteinen verzierte. Die von Uniformen inspirierte Oberbekleidung war völlig dekonstruiert, doch gleichwohl sinnlich und geschmackvoll. Schnüre wurden zum schicken Accessoire. Für den Abend verlieh Seidenorganza, und zwar in kräftigem Schwarz oder in zarten andersfarbigen Schattierungen, den Kleidern eine nicht greifbare Leichtigkeit, während bestickte Blüten ein weiches Bild zeichneten.


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