▌EN

Die Affäre einer Nymphe

Mode für ein Leben aus dem Gleichgewichte

Finale Aufstellung – die Modepräsentation „BRUNELLO CUCINELLI“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 2. November 2016
Die Bedeutung, die im allgemeinen, das heißt im gesellschaftlichen Leben, eine Grenzüberschreitung hat, kommt im besonderen, hier in der Modebranche, dem Aufheben oder Verwischen von Grenzen zu. Mit der Kollektion für den Frühling und Sommer 2017 verwischte der in Solomeo in Umbrien wirkende Modeschöpfer Brunello Cucinelli die Grenzen zwischen Adrettem und Sportlichem sowie Männlichem und Weiblichem.

So erschienen am 21. September 2016 in den eigenen Mailänder Schauräumen die Stücke, von Mohnrot, Strohgelb und Azurblau abgesehen, in eher neutralen Farbtönen. Weiche Hosen aus Stoffen für Herrenkleidung, die entweder am Knöchel gesäumt oder übergroß waren, hatten winzige Pailletten anstatt Nadelstreifen. Geräumige Maschen mit vertikalen, breiten Streifen wie bei Sporttrikots hatten zur Anreicherung Kristallstickereien. Einen Kontrast dazu stellte neben technischen und laminierten Stoffen die Verwendung von Leder dar, wie beispielsweise bei der Bomberjacke mit Pythonhautoberfläche. Ein rotes, gestricktes Maschentop wies dank zwölf Stunden Fertigungszeit erfordernder, floraler Handstickerei einen 3D-Effekt auf. Mit der neuen, mit Blitzen glänzender und funkelnder Fäden durchzogenen Kollektion untermauerte Brunello Cucinelli einmal mehr seinen luxuriösen Anspruch.

Die Mailänder Modeschöpferinnen Luisa Beccaria und Lucilla Bonaccorsi widmeten sich bei ihrer Kollektion „The nymph affair“ dem Wasserthema. Ihnen schwebte eine Frau vor, die sich wie Wasser bewegt, wellt, verdreht und verändert. Entschlossenheit und Fließfähigkeit bestimmten ihr Weiblichkeitsideal wie für eine moderne, von Rosenkränzen berührte Nymphe. Dem entsprach die Farbpalette mit Tönen von Lichtblau über Türkisgrün bis zu Immergrün, um das Weiß und Rosa aus den Gemälden des französischen Malers Claude Monet ergänzt. Bei den Materialien war für den Tag das von Serge de Nîmes inspirierte Leinen mit handgefertigten floralen Formen bestickt. Die Baumwolle ließ mit Lurex-Zeichnung eine weiche Lochstickerei (Broderie anglaise) erstrahlen. Verkürzte Hosen (Cropped Pants) und Palazzohosen brachen die Eintracht der geweiteten Kleider und zeichneten ein neues Konzept verführerischer Eleganz, was ein bißchen der Glam-Rock-Ästhetik der 1970er Jahre ähnelte. Stickereimuster beeinflußten die Druckformen auf Blusen und leichten Frühlingskleidern. In der Nacht – das „Wasser brennt mit Sternenfetzen“ – sollten sich die verführerischen Kleider an den Körperformen ausrichten, und zwar durch gemusterten Glasbatist (Organdy) für asymmetrische Röcke und Lauchblütenstickereien an Tunikaoberteilen. Die schrägen Silhouetten der Kleider fanden ihre Zuspitzung in Cape-förmigen Ärmeln. Die Längen der Kleidungsstücke waren verschieden: mini, midi, maxi. Das Schuhwerk umfaßte flache Schnürschuhe, Pumps mit Stöckelabsätzen und Sandaletten mit Blockabsätzen, bei denen Wildleder, Lackleder und die bei den Kleidern verwandten Stoffe vorkamen. Das frühlingshafte Wetter am 22. September 2016 unterstrich die Frische der im Nationalmuseum der Wissenschaft und Technologie gezeigten Kollektion.

Nach dem Studium am Berkshire College of Art and Design in Windsor und Maidenhead (England), einer Tätigkeit im Bekleidungseinzelhandel in London und der kreativen Mitarbeit im Mailänder Modehause „VERSACE“ ab dem Jahre 1998 gründete der britische Modeschöpfer Lee Wood seine Marke „L72“ im Jahre 2015, um einen „totalen Look“ für Frauen und Männer zu erschaffen. Überdies stieß er in diesem Jahre als Kreativdirektor zum belgischen Modehause „DIRK BIKKEMBERGS“. Unter dem Motto „koyaanisqatsi“ entwarf er nunmehr eine Kollektion, für die er sich von der Filmwelt inspirieren ließ. Bei den Hopi-Indianern bezeichnete der Begriff „koyaanisqatsi“ ein Leben moralischen Verfalles oder ein Leben, das zumindest aus dem Gleichgewichte geraten war; im literarischen Sinne bedeutete es auch ein chaotisches Leben. Daneben heißt es in der Urkunde der Vereinigten Staaten von Amerika über die Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahre 1776 sinngemäß, daß alle Menschen gleich erschaffen sind mit gewissen unveräußerlichen Rechten, und zwar auf Leben, auf Freiheit und auf das Streben nach Glückseligkeit.

Der amerikanische Historiker und Schriftsteller James Truslow Adams hatte im Jahre 1931 diesen „amerikanischen Traum“, wonach für jeden Menschen das Leben „besser, reicher und voller“ sein sollte, als ein weltweites Ideal angesehen. Im Jahre 1982 veröffentlichte der amerikanische Regisseur Godfrey Reggio den experimentellen Dokumentarfilm „KOYAANISQATSI“ als ersten Teil seiner „Qatsi-Trilogie“. Dies war für den schwedischen Regisseur Jonas Akerlund die Inspirationsquelle für seinen vielbeachteten Musikvideofilm „ray of light“ mit der Sängerin Madonna aus dem Jahre 1998. Daraus bezog Lee Wood wiederum die Inspiration zu seiner neuen Kollektion. Er blickte zurück auf die 1950er Jahre, als die Werbebilder von den Anfängen einer weltweiten Kommerzialisierung, welche einem heutzutage so unkontrollierbar chaotisch und verwirrend vorkomme, gekündet hatten, und ließ den Mailänder Graphiker Roberto Amoroso aus Neapel dazu eine graphische Mixtur aus typischen Elementen der damaligen italienischen Werbung und der Symbolik der heutigen „Social Media“-Gemeinde schaffen, um das „chaotische Leben“ zu beschreiben.

Für eine klare graphische Aussage der Kollektion sorgten die Farbtöne Reinweiß, Rohölschwarz, Beige, Signalrot und Rosenrot. Baumwolle, Seide und Viskose waren mal gedruckt, um Gewebeeffekte nachzuahmen und sich der Idee der virtuellen Wirklichkeit unterzuordnen, mal laminiert, um auf die NASA und das US-Militär zu verweisen, mal mit Applicationen wie Aufnähern aus der Hochfrequenztechnologie versehen. Demgegenüber standen weißer und schwarzer Serge de Nîmes für eine Arbeitskleidung. Durch die Verwendung verschiedener Materialien und Texturen brachten die Handstickereien auf zartem Seidenorganza kostbare graphische Momente hervor, um eine Spannung zwischen Kraft und Fragilität auszudrücken. Letztlich ging es Lee Wood mit der am 21. September 2016 im Hotel „SENATO“ gezeigten Kollektion darum, durch das verfeinerte Gleichgewicht von Formen und Materialien einen Moment der Reflexion zwischen Vergangenheit und Gegenwart beziehungsweise einen „friedlichen Moment der Kontemplation unseres gegenwärtigen globalen Status“ zu beschreiben.


Weitere Bilder



█ INHALTSVERZEICHNIS █ ARCHIV █ KALENDER █ IMPRESSUM