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Mode in Berlin – dritter Teil

Die erste Hälfte des Jahres 2010 in der Retrospektive

Eisige Zeiten – Personal nach der Modenschau „HAUSACH COUTURE“ (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen und Christiane Leonhardt — 1. Januar 2016
Die Berliner Modewoche vom 19. Januar 2010 bis zum 23. Januar 2010 war von einer politischen Diskussion über den richtigen Umgang mit Denkmälern überschattet. Der Umstand, daß der Bebelplatz zwischen der Staatsoper Unter den Linden und dem Gebäude der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin („Kommode“) als Teil des Forum Fridericianum das Zelt beherbergte, in dem die meisten Modenschauen der Veranstaltungsreihe „Mercedes-Benz FASHIONWEEK BERLIN autumn/winter 2010“ gezeigt wurden, rief eine Bürgerinitiative auf den Plan, die sich aus grundsätzlichen Erwägungen gegen eine „Kommerzialisierung“ des Ortes wandte.

Dabei ging es weniger um das historisch bedeutsame städtebauliche Ensemble, sondern mehr um das unter einer Glasplatte in der Mitte des Platzes befindliche und aus leeren Bücherregalen bestehende Denkmal zur Erinnerung an die Bücherverbrennung am 10. Mai 1933. In der Modewoche war das Denkmal derart in das Veranstaltungszelt einbezogen, daß es in einen besonderen Raum integriert war durch einen separaten Eingang für Besuchergruppen frei zugänglich war. Für das besinnliche Verweilen standen anders als sonst Stühle bereit. Die schwarzen Wände des Zeltes ließen das erleuchtete Denkmal um so wirkungsvoller erscheinen. Die Bürgerinitiative meinte nun, diese Behandlung des Denkmales sei seiner Bedeutung nicht angemessen. Auf der Tafel eines Demonstranten war zu lesen: „BÜCHERVERBRENNUNG 1933 MODEPARTY 2010“. Von den nach ihren Eindrücken befragten, vorwiegend ausländischen Besuchergruppen war indes eine Kritik dahingehend, daß die Wirkung des Denkmales beeinträchtigt sei, nicht zu vernehmen. Vielmehr waren die Besucher vom Geschehen rund um die Modenschauen gleichermaßen beeindruckt.

Der Druck unmittelbar auf den Berliner Senat und mittelbar auf die IMG GmbH als Veranstalterin nahm zu, weil sich das Abgeordnetenhaus mit einer Petition gegen die Nutzung des Bebelplatzes, die von mehr als 500 Künstlern und Historikern ausging, zu beschäftigen hatte. Dennoch verlief die Diskussion sehr oberflächlich. Wenn das Modegeschehen als „Kommerz“, „Halligalli“ oder „Party“ bezeichnet wurde, machte dies einmal mehr deutlich, welchen Stellenwert die Mode beziehungsweise Bekleidung hierzulande überhaupt einnimmt. Es scheint typisch zu sein, die Mode nicht als Teil der Kultur wie die Musik, Malerei, Literatur und dergleichen, das heißt als Bekleidungskultur, sondern als etwas Alltägliches zu begreifen. Hier sind andere Länder wie Frankreich, Italien oder Großbritannien in ihrer geistigen Entwicklung schon weiter und kennen eine solche Geringschätzung nicht. Als noch die öffentlichen Konzerte der Staatskapelle Berlin und die Übertragungen von Opernaufführungen auf den Platz in die Diskussion einbezogen wurden, standen sich verschiedene Kulturformen – einerseits die auf das Denkmal bezogene Erinnerungskultur sowie andererseits die Bekleidungskultur und Musikkultur – scheinbar unversöhnlich gegenüber.

Erinnerungskultur versus Bekleidungskultur
Bei der Diskussion ging ebenfalls unter, daß sich Bekleidungskultur und Erinnerungskultur einander nicht ausschließen müssen. Die Mode ist aus der Mitte Berlins nicht wegzudenken, denn der nahegelegene Hausvogteiplatz war nicht nur bis in die 1930er Jahre ein Modezentrum, sondern auch die Geburtsstätte der Textilkonfektion. Der Kaufmann Valentin Mannheimer hatte im Jahre 1837 mit der Massenfertigung von Bekleidungsstücken begonnen und den Ruf Berlins als Modemetropole mitbegründet. Die jüdischen Inhaber der Modeateliers um den Hausvogteiplatz waren ebenso Opfer des NS-Regimes wie die verfemten Schriftsteller. Insofern war es einer ernsthaften Diskussion kaum förderlich, beide Opfergruppen gegeneinander auszuspielen. Über die Geschichte und Bedeutung der Mitte Berlins konnte sich jeder, der das Denkmal über den separaten Eingang aufsuchte, anhand der eigens angebrachten Hinweistafeln informieren. Daß nunmehr gleichsam auf modehistorischem Boden neue Kollektionen gezeigt wurden, konnte demnach sowohl als Hommage an den jüdischen Modepionier wie auch als Zeichen gegen das Vergessen der Leistungen der ehemaligen Ateliers und als Zeichen gegen eine generelle Diskriminierung künstlerisch kreativer Menschen verstanden werden. Eingedenk dessen ergänzten sich das Denkmal und das aktuelle Modegeschehen in idealer Weise; beides forderte zum Nachdenken über den Umgang mit Kultur überhaupt auf. Die Art und Weise der Diskussion ließ jedenfalls erkennen, daß Berlin den überkommenen Rest an Provinzialität noch nicht überwunden hatte.

Ob die IMG GmbH von der anhaltenden Diskussion zermürbt wurde oder sowieso schon eine anderweitige Planung hatte, kann dahingestellt bleiben, denn es steht nunmehr fest, daß sich die IMG GmbH für künftige Modenschauen nach einer anderen Stätte umsehen wird, was insoweit konsequent ist, als die Veranstaltungsorte in der Frühzeit häufig gewechselt hatten; man denke an das Brandenburger Tor im Jahre 2007 und den sogenannten Postbahnhof im Jahre 2008. Glücklicherweise sind attraktive Orte in Berlin zuhauf zu finden, wobei auch dort irgendwelche Proteste nicht auszuschließen sein werden.

Offensichtlich taugten die Veranstaltungen der Modewoche als Plattform für die Artikulation diverser Anliegen. Einmal versuchten als Schneemänner verkleidete Demonstranten das Veranstaltungszelt zu stürmen, um auf den prophezeiten Klimawandel aufmerksam zu machen. Freilich mutete bei der vorherrschenden Eiseskälte das Thema „globale Erwärmung“ etwas befremdlich an. Das Sicherheitspersonal griff beherzt ein und drängte die Schneemänner auf die Eingangstreppe ab, wo sie von einer Hostess, die von drinnen herbeigeeilt war, mit Erfrischungsgetränken versorgt und so vor dem „Schmelzen“ gerettet wurden. Diese Hostess trug ein weißes glockenförmiges Kleid der Cottbuser Modeschöpferin Julia Danckwerth, welche die Veranstaltungsreihe als Gelegenheit genutzt hatte, das Personal auszustatten, um ohne eine Modenschau ihre Marke „artischocki“ bekanntzumachen.

Mode ohne Grenzen
Die Veranstaltungsreihe „Mercedes-Benz FASHIONWEEK BERLIN autumn/winter 2010“ stellte mit ihren achtundzwanzig Modenschauen und etlichen Begleitveranstaltungen nur einen Teil des hauptstädtischen Modegeschehens dar. Ein ähnliches Konzept, mehrere Kollektionen an einer Veranstaltungsstätte konzentriert zu zeigen, steckte hinter der Veranstaltungsreihe „SHOWFLOOR BERLIN“ mit zehn Modenschauen und der Modenschau „HBC Couture“ mit neun vertretenen Marken. Daneben gab es vereinzelte Modenschauen, die nicht in ein größeres Veranstaltungskonzept eingebunden waren. Eine andere Präsentationsform waren die sieben Modemessen. Auf der Messe „PREMIUM“ waren vor allem elegante Abend- und Tageskleidung zu finden. Für die Straßen-, Freizeit und Sportkleidung gab es die Messe „BREAD & BUTTER“. Die Messe „5 elements.berlin“ brachte Strand- und Bademode sowie Unterwäsche zusammen. Die Messe „SPIRIT OF FASHION BERLIN“ für „Untergrundmode“ erstreckte sich auf die Bereiche „Punk, Streetwear, Glam, Gothic, Rock’n’Roll“. Die Messe „projektGALERIE“ verband „high fashion“ sowie „avant-garde“ und „progressive street wear“. Auf der Messe „thekey.to“, die der „grünen Mode“ beziehungsweise „Öko-Mode“ gewidmet war, ging es um eine „faire Erzeugung und Verarbeitung von Materialien“. Neu hinzu kam die aus Köln abgewanderte Messe „JAM BERLIN 2010“ für Jeanskleidung. Eine weitere Präsentationsform bestand darin, daß Modeschöpfer ihre Kollektionen in ihrem eigenen Laden oder Atelier vorstellten oder eine auswärtige Ausstellung machten, wofür im wesentlichen das Konzept „Showroom-Meile“ stand. Die Veranstaltungen waren in der Regel den Fachleuten, Journalisten und persönlichen Gästen der Modeschöpfer vorbehalten. In einigen Fällen, beispielsweise bei der Messe „thekey.to“ unter dem Motto „Publikumstag“, hatte auch jeder Interessierte Zugang.

Nach der ersten eigentlichen Modewoche im Juli 2007 mit elf Laufstegveranstaltungen bestand das jetzige Programm aus über fünfzig Laufstegveranstaltungen. Laut Auskunft der Berlin Tourismus Marketing GmbH hielten sich rund 200.000 Besucher wegen der Veranstaltungen der Modewoche in Berlin auf. Für Berlin als Modemetropole war dies eine beachtliche positive Entwicklung. Ebenso wichtig für die Entwicklung war die Eröffnung des neuen Modezentrums „Label2“ mit einer Schau- und Verkaufsfläche von rund 7.000 m² innerhalb des Entwicklungsgebietes Mediaspree am Osthafen. Angesichts dessen können die Berliner dem für den Sommer in München geplanten Konkurrenzvorhaben „Munich Fashion Week“ gelassen entgegensehen.

Ein Kaleidoskop an Farben und Formen
Die gezeigten Kollektionen bestachen wieder durch ihre Vielfalt, auch wenn die Modeschöpfer abseits der aufwendigen Abendroben und der praktischen Kombinationen für den Tagesbedarf einfache Alltagskleider kaum berücksichtigt hatten. Ob mancher Modeschöpfer bewußt oder unbewußt von der anhaltenden Debatte über militärische Auslandseinsätze inspiriert worden war, läßt sich schwerlich sagen, ein gewisser Trend zu militärisch angehauchten Kleidungsstücken war jedoch unübersehbar. Der auf den Stellungskampf des ersten Weltkrieges zurückgehende Trenchcoat war als Klassiker unter den Mänteln bei der Berliner Modeschöpferin Bernadett Penkov und in verschiedenen Abwandlungen bei anderen Modeschöpfern zu finden. Die österreichische Modeschöpferin Lena Hoschek zeigte eine an die Mode der 1940er Jahre angelehnte Kollektion unter anderem mit braunen und grünen Farbtönen; der Gedanke an die nach dem Ende des zweiten Weltkrieges aus alten Uniformen gefertigten zivilen Kleidungsstücke lag manchmal nicht fern. Ein weiterer Trend deutete sich in der Kollektion der Marke „.DIMITRI“ des italienischen Modeschöpfers Dimitrios Panagiotopoulos an: der echte Pelz kommt zurück. Obwohl die Farbe Schwarz in manchen Kollektionen dominierte – die Modeschöpferinnen Livia Ximénez Carillo und Christine Pluess mit ihrer Marke „mongrels in common“ schwärzten zusätzlich den Laufsteg –, wäre es verfrüht, von einer Trendfarbe zu sprechen. Inspiration für die in Schwarz gehaltene Kollektion des Hamburger Modeschöpfers Sascha Gaugel mit der Marke „HAUSACH Couture“ waren die Roben der 1950er Jahre wie auch das Frauenbild in den Spielfilmen des Regisseurs Federico Fellini gewesen.

Der aus Bayern stammende und nun in Berlin arbeitende Modeschöpfer Michael Sontag, dessen letzte Kollektion von der international bekannten Modekritikerin Suzy Menkes in der Zeitung „International Herald Tribune“ gelobt worden war, griff für seine jetzige Modenschau nicht auf die einer internationalen Norm entsprechenden Laufstegmodelle zurück, sondern setzte Berliner Modelle mit markanten Gesichtern ein. Dies harmonierte sehr gut mit seinen Stücken, die von vornehm-zurückhaltender Eleganz geprägt waren. Der Berliner Modeschöpfer Sam Frenzel hatte sich gegenüber seiner ersten Kollektion, für die er im Juli 2009 von der Peek&Cloppenburg KG Düsseldorf als „Designer for Tomorrow“ ausgezeichnet worden war, beträchtlich gesteigert. Nunmehr bestaunte das Publikum filigranartige gestrickte Kunstwerke. Unter der Federführung des Berliner Modeschöpfers Kilian Kerner waren diesmal zwei Kollektionen entstanden. Seine Marke „KILIAN KERNER“ steht für legere und verspielte Eleganz; die Marke „NO IFS“ umfaßt gehobene Straßen- und Freizeitkleidung. Zu den Debütanten, die in Berlin ihre erste Kollektion vorstellten, zählten die Berliner Modeschöpferinnen Johanna Perret und Tutia Schaad mit ihrer Marke „PERRET SCHAAD“ sowie die Münchener Modeschöpferin Christina Arend mit ihrer Marke „arrondissement Aq1“.

Nackte Tatsachen
Der Münchener Modeschöpfer Patrick Mohr schickte nach den Obdachlosen nun „Bodybuilder“ und ein „Tittenmonster“ mit riesigen Hasenzähnen über den Laufsteg, deren Auftritt ein Harlekin mit Sackkarre tatkräftig unterstützte. Diese Modelle trugen entweder wie Müllbeutel aussehende Plastikplanen oder weite Trikothemden und enge Jeanshosen nacheinander in Blau, Rot, Gelb, Weiß und Schwarz. Allerdings geriet bei diesem Spektakel die Kollektion zu sehr in den Hintergrund. Die Vorstellung der neuen Brillenkollektion der Marke „ic! berlin“ begann mit einem Pantomimen, dessen nackter Penis das Publikum verblüffte, aber bald unter Klebebändern verschwand. Für den Rest der Schau blieb der verpackte Pantomime als Stolperfalle für die Modelle regungslos auf dem Boden liegen. Inhalt und Stil der Inszenierungen mögen einem wie im Theater gefallen oder nicht gefallen. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, daß die Modenschau, die kostümbildnerische, darstellerische, choreographische, musikalische und bühnenbildnerische Elemente in sich vereinigt, heute neben Opern-, Ballett-, Konzert- und Schauspielaufführungen, Filmvorführungen sowie Videoinstallationen eine neue Kunstform ist, deren Besonderheit in der Interaktion zwischen den Modellen in den Kleidungsstücken, dem Publikum und den Photographen/Videofilmern unter der Leitung des Modeschöpfers besteht. Eine enge künstlerische Verbindung zwischen der Modeszene und dem Theater ist übrigens nichts Neues. Im Jahre 2009 entwarf der für seine extravaganten Kreationen berühmte Pariser Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier die Kostüme für die Uraufführung des Ballettes „Schneewittchen“ in der Deutschen Oper Berlin, wodurch gewissermaßen die Modenschau auf die Bühne kam. Für die Kostümentwürfe der aktuellen Neuinszenierung der Oper „Agrippina“ in der Staatsoper Unter den Linden ist der für seine phantastischen Kreationen weltbekannte, ehemalige Pariser Modeschöpfer Christian Lacroix verantwortlich. Hierzu äußerte er kürzlich in einer Sendung des Fernsehkulturmagazins „ttt“: „Haute Couture und Oper sind das gleiche. Es geht immer darum, den Charakter einer Person oder Rolle zu unterstreichen.“

Auf einer gemeinsamen Modenschau waren die Kollektionen der italienischen Nachwuchsmarken „CRISTIANO“, „A-lab Milano“, „PAOLO ERRICO“, „MAURO GASPERI“ und „cristina miraldi“ zu sehen. Hervor stachen die Widderhörner, welche die Modelle der Marke „A-lab Milano“ unter dem Motto „Arcana“ in Anspielung auf die Antike als Kopfputz zu einer schmalen, uniformartigen Silhouette trugen. Der neue Preis „RAMAZZOTTI Runway AWARD“ zur Förderung des einheimischen Nachwuchses unter den Modeschöpfern ging an die Berliner Modeschöpfer Marlene Scheffel und Iskander Porodjuk mit ihrer Marke „LUXXUS“. Sie stellten am 21. Januar 2010 im Repräsentanzgebäude der Daimler AG ihre Gewinnerkollektion mit Variationen des „kleinen Schwarzen“ nach den Kollektionen der fünf Mitbewerber vor.

Die Modewoche endete mit der Modenschau des Berliner „Kult-Designers“ Torsten Amft im Club „ADAGIO“. Torsten Amft wollte in dem düster-gruseligen Ambiente neben den üblichen Modellen behinderte Menschen auftreten lassen, um nach eigenem Bekunden gegen die Folgen der Genmanipulation zu protestieren. Hinter den Kulissen kam es zu Abstimmungsproblemen, als sich Torsten Amft gegen die Verwendung von Rollstühlen aussprach. Als die behinderten Menschen dann noch erfuhren, daß sie teils mit ihren Prothesen winken, teils ohne Prothesen in einer Tasche über den Laufsteg getragen werden sollten, war für sie eine Mitwirkung nicht mehr zumutbar. Letztlich mußte Torsten Amft auf den Einsatz der behinderten Menschen und damit auf seine Provokation verzichten, was für alle Beteiligten wohl die beste Lösung war, zumal da seine solide Kollektion eine solche Provokation gar nicht nötig hatte.

Beständig im Wandel
Die IMG GmbH hatte sich mittlerweile mit ihren Veranstaltungsreihen im Berliner Modegeschehen etabliert. Dennoch blieb eine Fluktuation bei den beteiligten Modeschöpfern und Marken nicht aus. Die Modeschöpfer der Marken „kaviar gauche“, „lala BERLIN“ und „MICHALSKY“, die bisher zu den Zugpferden gehört hatten, nabelten sich mit einer eigenen Veranstaltung unter dem Motto „Style Nite“ im Theater „FRIEDRICHSTADTPALAST“ ab. Die Marke „Sisi Wasabi“ war nach der Trennung von der Berliner Modeschöpferin Zerlina von dem Bussche nicht mehr präsent. Die Berliner Modeschöpfer Klaus Unrath und Ivan Strano sahen sich einer Insolvenz gegenüber und zeigten keine Kollektion mehr. In den zwei letztgenannten Fällen hatte sich die icon fashion group AG finanziell beteiligt. Die Einbringung fremden Kapitals hatte unweigerlich zu einer Fremdbestimmung geführt, bei der die finanziellen Interessen des Finanziers und die kreativen Interessen der Modeschöpfer zusehends auseinanderfielen. Vermißt wurden obendrein drei „Dauerbrenner“, nämlich der Berliner Modeschöpfer Gregor Clemens, der Münsteraner Modeschöpfer Guido Maria Kretschmer sowie die Berliner Modeschöpfer Constanze G. González und Andreas Scherer.

Die Entwicklung der Modeszene in Berlin ging auch an den Menschen nicht spurlos vorüber. Es fiel angenehm auf, daß neben den Fachleuten und den wenigen prominenten und vielen semiprominenten Gästen der Modeschöpfer, deren Erscheinungsbild sich zwangsläufig nach beruflichen Belangen und Zielen richtete, immer mehr private Gäste Wert auf eine gepflegte, bisweilen sogar elegante Kleidung legten.

Mode in allen Dimensionen
Mode, deren Charakteristika die Veränderlichkeit und der stete Wechsel sind, strukturiert Gesellschaften, indem sie das Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft bestimmt, Personen ein- oder ausgrenzt sowie [Geschlechts-]Identitäten schafft. Dieser Leitsatz stand über einer kulturwissenschaftlichen Tagung in Berlin.

Veranstalter der Tagung „Die Räume der Mode“ vom 5. Mai bis zum 7. Mai 2010 im Kulturforum war das Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam. Hinzu kamen die Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz, die AMD Akademie Mode & Design GmbH in Hamburg sowie der netzwerk mode textil Interessenvertretung der kulturwissenschaftlichen Textil-, Kleider und Modeforschung e. V. in Berlin als Kooperationspartner. Das Veranstaltungskonzept erläuterte die Leiterin Prof. Dr. Gertrud Lehnert vorweg: „Kleidermode ist eine der wichtigsten Erscheinungsformen von Mode. Sie materialisiert die Dynamik der Mode einerseits in Artefakten, den ‚Kleidern‘, und andererseits im menschlichen Handeln, das diese Kleider hervorbringt und sie in einer Vielfalt von Aktivitäten erst zu Mode werden lässt. Dieses Handeln findet im Raum statt, der seinerseits als dynamisch zu verstehen ist. Der Mode als einem Prozess des unauflöslichen wechselseitigen Verhältnisses von Räumen, Kleidern und Menschen widmet sich die interdisziplinäre Tagung.“

Den Themenkomplex „RÄUME DER AUFFÜHRUNG“ eröffnete die Dozentin der Freien Universität Berlin Prof. Dr. Gabriele Brandstetter; ihr Vortrag „Choreographie der Stoffe. Zu Transformationen von Körper-Raum“ drehte sich um das Stück „Parades and Changes“, um zu zeigen, wie aus Alltagsprodukten Mode entstehen könne; die Künstlerinnen Anne Collod und Anna Halprin hatten herumliegendes und den Raum definierendes Packpapier um nackte Körper gelegt und damit zur Mode gemacht. Die an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg lehrende Prof. Dr. Birgit Haase stellte unter dem Titel „‚La passante‘ – Die Promenade als Modeschauplatz im Zeitalter des Impressionismus“ das Idealbild der „Parisienne“ in den 1860er Jahren vor, als die Frauen als Spaziergängerinnen in das öffentliche Großstadtleben getreten waren; das weibliche Promenadenkostüm war damals ein Inbegriff urbaner Modernität gewesen. Der Begriff „passante“ war übrigens Charles-Pierre Baudelaires Dichtung „Les Fleurs du Mal“ aus gleicher Zeit entnommen.

Alicia Kühl, Doktorandin der Universität Potsdam, hob unter dem Titel „Annäherungen an eine Modenschaukritik“ die „Demokratisierung“ der bisher einem exklusiven Publikum vorbehaltenen Modenschauen durch „Public Viewing“ und „Livestreaming“ hervor; so werde die Modenschau zusehends zum „Event“. Prof. Dr. Gertrud Lehnert erklärte unter dem Titel „Théâtre(s) de la mode: Moderäume und Modepuppen“, Modepuppen führten modellhaft Bekleidungsmode vor und brächten eine „spezifische Dynamik räumlicher Wahrnehmung“ hervor, wobei die Puppen selbst auch Objekte des Begehrens seien.

Mode für die Masse
In den Themenkomplex „RÄUME DES KONSUMS“ führten Anna-Brigitte Schlittler und Prof. Katharina Tietze, von der Zürcher Hochschule der Künste kommend, ein, indem sie ihr Buchprojekt „Kleider in Räumen“ mit Aufsätzen zur Verbindung von Mode und Architektur und einer Abhandlung über die soeben beendete Ausstellung „Kleid im Kontext?“ im Gewerbemuseum in Winterthur vorstellten. Der an der Universität Bochum arbeitende Dr. Uwe Lindemann beschrieb unter dem Titel „Mode als Massenware. Die Räume der Konfektion in der frühen Konsumkultur“, wie sich um das Jahr 1900 die neue Produktionsform der Kleidungskonfektion als Reaktion auf den Massenbedarf an Kleidung auf die räumliche Modepräsentation ausgewirkt hatte; so seien neben den Präsentationsräumen der Konfektionsbetriebe die Schaufenster der zentrale Raum der Werbung gewesen. Arjan van der Bliek, der Architekturvereinigung „urban symbiose“ in Amsterdam angehörig, machte unter dem Titel „Wo Mode und Architektur sich treffen“ deutlich, wie sich Modeschöpfer, Architekten und Konsumenten durch kommunikative Interaktion gegenseitig inspirierten, wobei der „Fashion Store“ der Brennpunkt sei.

Den Themenkomplex „MEDIALE RÄUME“ griff die Berliner Künstlerin und Journalistin Susanne Beckmann auf, die unter dem Titel „Virtueller und realer Raum der Mode“ die spezifischen Merkmale des photographischen Ateliers, des Laufsteges, des Ladens und der „Internet“-Seite gegenüberstellte. Der Leipziger Mode- und Kunstphotograph Olaf Martens betonte unter dem Titel „Reale Kunstwelten“, wie wichtig es für eine aussagekräftige bildliche Darstellung der Mode sei, nicht nur das Kleidungsstück zu zeigen, sondern auch eine Geschichte zu erzählen, also die Kleidung in Beziehung zur räumlichen Umgebung mit ihrer besonderen Vergangenheit und Gegenwart zu setzen, was er mit eigenen Bildern veranschaulichte. Seine Werke ließen erkennen, wie leicht sich eine solche Geschichte erzählen ließ, wenn für die Auswahl des Sujets und die Bildkomposition ein fundiertes kunsthistorisches Wissen zur Verfügung gestanden hatte.

Die an der Technischen Universität Dortmund wirkende Prof. Dr. Gabriele Mentges griff unter dem Titel „Urbane Landschaften im Bild der Mode“ auf ein Lichtbild des Modephotographen Erwin Blumenfeld aus dem Jahre 1939 zurück, für welches das Modell Lisa Fonssagrives auf den Stahlträgern des Eiffel-Turmes vor der nur noch schemenhaft erkennbaren Pariser Silhouette posiert hatte; dieses Bild habe einen „ikonischen Status“ in der Modephotographie. Davon ausgehend, brauche die Mode einen Kontext wie die Stadt, also eine Verortung, um als Mode wahrgenommen zu werden. Hier hätten ebenso die Photographen Helmut Newton und Franz Christian Gundlach wegweisend gewirkt. Die Lipperheidesche Kostümbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin vertrat Dr. Adelheid Rasche, die unter dem Titel „Von Sprach- und Bildräumen: Mode in Text- und Bildquellen“ die Entwicklung der Modedarstellung von den Trachtenbüchern der frühen Neuzeit bis zu den heutigen Modezeitschriften, insbesondere die Veränderungen bei der Anordnung und der Gewichtung von Abbildungen und erläuternden Texten im Laufe der Zeit, darstellte.

Gefahr der Kommerzialisierung
Den Themenkomplex „MODE IM MUSEUM“ konkretisierte die Mitarbeiterin des Kunstgewerbemuseums Christine Waidenschlager unter dem Titel „Mode-Räume – Zur geplanten Präsentation der Modesammlung des Kunstgewerbemuseums zu Berlin“, indem sie einen Überblick über die Sammlungsgeschichte des im Jahre 1867 gegründeten Museums gab und erklärte, die Integration der Modesammlung des Museums in die ständige Schausammlung sei geplant. Die am London College of Fashion tätige Amy de la Haye verdeutlichte unter dem Titel „Objects of a Passion: Fashion History and Museum Spaces“ anhand einiger Fallstudien, wie die Mode seit der vorletzten Jahrhundertwende den kulturellen Raum in Form von Museen und Galerien erobert hatte.

Katja Weise, Studentin der Freien Universität Berlin, ließ das Publikum unter dem Titel „Museen machen Mode. Die Inszenierung modischer Körper in Ausstellungen“ in ihre noch unfertige Magisterarbeit blicken. Den Mittelpunkt ihres Interesses bildeten ausgefeilte räumliche Arrangements in Sonderausstellungen über zeitgenössische Haute Couture und Prêt-à-Porter, die Mode als ephemeres Phänomen erfahrbar machten; die Einbeziehung von Besuchern und Modellen in die Ausstellung führe zu einer „Verlebendigung“ der Kleider. Zu denken sei an die Ausstellung des japanischen Modeschöpfers Yohji Yamamoto „Dream Shop“ in Antwerpen im Jahre 2006, wo die Kleidungsstücke die Besucher mit den Schildchen „Try me on!“ zum Anprobieren aufforderten. In solchen Fällen habe sich um ein Zusammenspiel von Körpern und Kleidungsstücken ohne Verkaufsabsicht gehandelt. Hier wandte sich Dr. Adelheid Rasche gegen eine Ausbreitung kommerzieller Interessen in musealen Räumen und nannte als Beispiel die „TONI GARD“-Ausstellung in Düsseldorf im Jahre 2007, wo Preisschilder an den ausgestellten Kleidungsstücken nicht zu übersehen gewesen seien.

Blick unter den Rock
Den Themenkomplex „MODE ALS RAUM“ läutete der Vortrag „East meets West – Die japanische Mode“ der Dozentin der Züricher Hochschule der Künste Prof. Dr. Jacqueline Otten ein, mit dem sie auf den Einfluß der japanischen Tradition auf die europäische Mode bis in die 1980er Jahre hinein einging; nunmehr sei ein Zustand mit einer gegenseitigen Inspiration wie auch einer internationalen Formensprache erreicht. Die Dozentin der Modeschule „AMD“ Prof. Dr. Petra Leutner näherte sich unter dem Titel „Die unheimlichen Räume des Rockes“ der weiblichen Kleidung aus psychoanalytischer Sicht. Demnach umschließe der Rock den Unterleib und verhülle damit, was sich zwischen den Beinen befinde; insofern bilde der Rock für die Kastrationsängste des Mannes einen Schutzraum vor den Gefahren der Vagina. Funktionale Aspekte wie die Umgebungstemperatur für die Rocklänge ließ sie bei ihrer kulturwissenschaftlichen Betrachtung nicht gelten. Dies provozierte eine Anmerkung aus dem Publikum, wonach der Verzicht auf Unterwäsche eher für einen freien sexuellen Zugang zur Frau spreche.

Zuletzt wies Elke Giese, die für den Deutsches Mode-Institut e. V. in Köln das heutige Erscheinungsbild junger Leute auf der Straße untersucht hatte, unter dem Titel „Trends: ‚Everywear‘“ auf den sportiven und zugleich betont nachlässigen Charakter der scheinbar willkürlich zusammengestellten Einzelteile hin. Diese unter der Bezeichnung „Look der Straße“ zu vereinenden Kombinationen würden als Ausdruck des Zeitgeistes für das Segment „High Fashion“ immer bedeutsamer und hätten mittlerweile Eingang in das Berufsleben gefunden, wozu Elke Giese auf die von ihr photographierten Mitarbeiter Berliner Presseagenturen verwies. Daher seien traditionelle Medien wie die Modezeitschrift „VOGUE“ nicht mehr inspirierend.

„Fashion Victims“ auf beiden Seiten
Auf aktuelle Fragen gingen die Modeschöpfer Gregor Clemens und Raik Hölzel, der „Online“-Bekleidungshändler Dr. David von Rosen-von Höwel, die Textilantiquitätenhändlerin Mirjam A. Grese, die Modephotographen Sonja Gutschera und Leif Henrik Osthoff, die „Modebloggerin“ Julia Knolle sowie der Unternehmer Stefan Sihler in einer Podiumsdiskussion mit der Moderatorin Susanne Beckmann ein. Die Diskussionsteilnehmer waren sich einig, der „Online“-Handel gewinne zwar stetig an Bedeutung, lasse den herkömmlichen Laden aber nicht aussterben. Daneben entwickelten sich die „Blogger“ zu einer ernsthaften Konkurrenz für die etablierten Modezeitschriften. Julia Knolle räumte jedoch ein, auf der Gehaltsliste eines Zeitschriftenverlages zu stehen, und weckte damit Zweifel an der kritischen Unabhängigkeit mancher Blogger. Nach Ansicht einer Tagungsteilnehmerin erwies sie sich als bloßer „Internet-Junkie“. Gregor Clemens, der nun in London arbeitet, gab noch als Grund für seinen Wegzug aus Berlin an, den Erwartungsdruck, mit seiner Marke „LAC ET MEL“ einen vermeintlichen Berliner Stil zu pflegen, habe er nicht länger ertragen können; obendrein habe er sich von den Gästen seiner Modenschauen ausgenutzt gefühlt, da sich diese „Wannabes“ nicht wirklich für seine Kleidungsstücke, sondern nur für Parties und „Goodies“ interessiert hätten.

In der Tat sind viele Lebensbereiche von der Mode ordnend durchdrungen. Leider blieben bei der Tagung die Modenschau als Raum einer neuen Kunstform (Modetheater) und der Kriegsschauplatz als Raum militärischer Mode mit ihren vielen Einflüssen auf die zivile Mode – die Krawatte geht auch auf ein Uniformteil des Régiment de Cavalerie de Royal-Cravate zurück und der Trenchcoat entstammt den Schützengräben des ersten Weltkrieges – unbeachtet. Auch die Theaterbühne als Raum für kostümbildnerische Kreationen à la mode – so die Pariser Modeschöpfer Jean-Paul Gaultier für die Inszenierung „Schneewittchen“ des Staatsballettes Berlin und Christian Lacroix für die Inszenierung „Agrippina“ der Staatsoper Unter den Linden – kam nicht vor; Christian Lacroix hatte einst gesagt: „Haute Couture und Oper sind das gleiche. Es geht immer darum, den Charakter einer Person oder Rolle zu unterstreichen.“ Überdies wäre es für die Betrachtung manchmal hilfreich gewesen, bei der Modeinszenierung zu differenzieren, das heißt das Kleidungstragen in der Praxis seitens der Konsumenten klarer von der Zurschaustellung seitens der Modeschöpfer und Händler abzugrenzen.

Visueller Höhepunkt der Veranstaltung war die Modenschau der beteiligten Modeschule am 6. Mai 2010. Unter dem Motto „Privacy“ schienen sich die Erkenntnisse aus den Redebeiträgen in anschaulicher Weise zu verdichten. Unglücklicherweise hielten sich die Laienmodelle nicht immer an die von den Choreographen Susanne Müller-Elsner und Tamatsu Kondo als Hilfe für das Posieren gedachte Markierung auf dem Laufstegboden. Ein Rundgang durch die Ausstellung „High Sixties Fashion Modefotografie und -illustration“ und ein Blick auf einige literarische Schätze der Lipperheideschen Kostümbibliothek rundeten die Veranstaltung ab.


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