Die hohe Schneiderkunst

Was die Modemetropole Paris auszeichnet und Berlin daraus lernen kann

Das Grand Palais in Paris – Stätte vieler Modenschauen (Bild: Christian Janssen)

Von Christian Janssen — 2. April 2012

Der Berliner Modewoche folgte die Pariser Haute-Couture-Woche, was dazu einlädt, sich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Modestandorte zu vergegenwärtigen.

Vom 23. Januar 2012 bis zum 26. Januar 2012 stand Paris im Zeichen der hohen Schneiderkunst (Haute Couture). Siebenundzwanzig von der Chambre Syndicale de la Haute Couture anerkannte Veranstaltungen gaben dem internationalen Fachpublikum und den ausgewählten privaten Gästen die Gelegenheit, die neuen Entwürfe der Modeschöpfer kennenzulernen. Bei der Haute Couture gehen anders als bei der Prêt-à-porter-Kleidung und der Konfektion hochwertige Materialien, eine gelegentlich verschwenderische Materialfülle, eine handwerkliche Perfektion sowie künstlerische und teilweise experimentelle Ideen Hand in Hand mit hohen Preisen. Ein Haute-Couture-Stück ist einmalig und wird der Kundin sozusagen auf den Leib geschneidert. Die niederländische Modeschöpferin Iris van Herpen brachte es vor kurzem in der Fernsehsendung „ttt titel thesen temperamente“ auf den Punkt: „Die Haute Couture zum Beispiel, das ist Kunst.“

Die Bezeichnung „haute couture“ ist in Frankreich gesetzlich geschützt. Um die Mitgliedschaft in der auf das Jahr 1868 zurückgehenden Chambre Syndicale de la Haute Couture – heute Teil der Fédération Française de la Couture du Prêt-à-Porter des Couturiers et des Créateurs de Mode – zu erlangen, sind strenge Voraussetzungen zu erfüllen. Die Anwärter für eine Vollmitgliedschaft müssen in Paris einen Hauptsitz unterhalten, ein Maßatelier mit mindestens fünfzehn Vollzeitangestellten betreiben wie auch in einer Saison mindestens fünfunddreißig verschiedene, von einem Modeschöpfer entworfene sowie von Hand gefertigte Kleidungsstücke für Tages- und Abendmode auf einer Modenschau in Paris vorstellen. Für jede Saison bedarf es einer neuen Bewerbung und Überprüfung. Kraft der Vollmitgliedschaft gilt für den Modeschöpfer die Bezeichnung „grand couturier“, für das Modehaus die Bezeichnung „maison de couture“ und für die Kleidungsstücke die Bezeichnung „haute couture“.

Zudem besteht seit dem Jahre 1997 für Interessenten, die nicht alle Voraussetzungen erfüllen, der Status eines eingeladenen Mitgliedes (membre invité), das die Bezeichnung „couture“ verwenden darf. Außerdem kann seither ein ausländischer Modeschöpfer beziehungsweise ausländisches Modehaus korrespondierendes Mitglied (membre correspondant) werden und sich wie Vollmitglieder der Bezeichnung „haute couture“ bedienen, wenn dessen Wirken für die Pariser Modewelt bedeutsam genug ist. Zusätzlich gibt es seit dem Jahre 2009 die Sparte „haute couture accessoires“ und seit dem Jahre 2010 die Sparte „haute joaillerie“ für Schmuck. Für die aktuelle Saison Frühjahr/Sommer 2012 waren elf Vollmitglieder, fünf korrespondierende Mitglieder, neun eingeladene Mitglieder, drei Mitglieder für Accessoires und sechs Mitglieder für Luxusschmuck gemeldet. Vorbei sind die Zeiten, als es kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über einhundert Vollmitglieder gegeben hatte, obwohl die Anforderungen weitaus höher als heute gewesen waren.

Licht und Schatten

Während aus der früheren Alta Moda kommende italienische Marken wie „GIORGIO ARMANI“ und „VALENTINO“ unter den korrespondierenden Mitgliedern und die Marke „GIAMBATTISTA VALLI“ unter den eingeladenen Mitgliedern zu finden sind, fehlen Marken aus der Bundesrepublik Deutschland gänzlich. Immerhin ist der Modeschöpfer Karl Lagerfeld für die Haute-Couture-Marke „CHANEL“ in Paris kreativ tätig. In deutschen Landen hatte sich anders als in Frankreich und Italien eine hohe Schneiderkunst mit festen Regeln und Qualitätsmaßstäben sowie einer zentralen, nationalen Organisation nie etablieren können; Berlin hatte eher für die dort entwickelte Konfektion gestanden.

Sogar heutzutage tut man sich in Berlin mit hochwertiger Mode schwer, wenngleich das schöpferische Potential – man denke an die einheimischen Modeschöpfer Guido Maria Kretschmer sowie Klaus Unrath und Ivan Strano – durchaus vorhanden ist. Dies liegt wohl weniger am Wollen und Können der einheimischen Modeschöpfer, sondern mehr an fehlenden finanziellen Mitteln und einer geringen zahlungsbereiten Kundschaft. Mittlerweile stehen hinter vielen international bekannten Modehäusern international agierende, finanzstarke Mode- und Luxuskonzerne. Wenn auch das einzelne Haute-Couture-Kleid überaus teuer ist, wird mit der Prêt-à-porter-Kleidung sowie mit Accessoires und Kosmetika mehr Umsatz erzielt. Insofern geht es bei der Haute Couture mehr ums Prestige und Renommee eines Modeschöpfers beziehungsweise eines Modehauses, falls man sie sich leisten kann. Beispielsweise übernahm im Februar 2012 der Investmentfonds Fung Brands aus Hong Kong zu 80 Prozent das Pariser Prêt-à-porter-Haus „SONIA RYKIEL“, dessen Umsatz seit dem Jahre 2008 um rund zehn Millionen Euro zurückgegangen war, um die Marke für den internationalen Markt weiterzuentwickeln. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen hält sich das Modeengagement finanzstarker Konzerne in Grenzen. In der Modewelt liegen eben Licht- und Schattenseiten dicht beieinander.

Orient trifft Okzident

Die Modemetropole Paris ist eine nie versiegende Inspirationsquelle, was nicht nur für die Modeschöpfung, sondern auch für die Modepräsentation und Modephotographie gilt. Am 25. Januar 2012 außerhalb des offiziellen Veranstaltungskalenders stellte der aus Syrien stammende und in Dubai arbeitende Modeschöpfer Rami Al Ali im „Salon Pompadour“ des Hotels „LE MEURICE“ nahe der Place de la Concorde erstmals in Paris seine neue Haute-Couture-Kollektion vor. Erfolgreich war er bereits im Nahen Osten gewesen, wo er nach seinem Studium am College of Fine Arts in Damaskus seine Karriere begonnen hatte. In Form einer Installation waren nun die Modelle unterhalb des Bildnisses der königlichen Mätresse Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de Pompadour, um einen Kamin herum gruppiert. Die Hochzeits- und Abendkleider teils aus transparenten Stoffen, teils mit Ausstanzungen oder Paillettendekorationen bildeten einerseits einen orientalischen Kontrast zum Louis-quatorze-Interieur des Salons, fügten sich andererseits mit ihrer glamourösen Ausgestaltung ohne weiteres in das noble Ambiente ein. Die Trägerinnen wurden so zu klugen und zielstrebigen Verführerinnen wie einst die Mätresse. Für Rami Al Ali, der mit Verhüllung und Enthüllung spielte, bedeutet Haute Couture der „ultimative Luxus“.

Am gleichen Tage heizten in der Veranstaltungsstätte „Garage Turenne“ die aus Bulgarien stammenden und in Paris arbeitenden Accessoires-Mitglieder Livia S. Stoianova und Yassen V. Samouilov mit einer feurigen Präsentation der Kollektion „High Light Fire“ ihrer Marke „on aura tout vu“ dem Publikum mächtig ein. Sie entführten das Publikum in eine wundersame Welt aus „Tausendundein Funken und Lichtern“: „In einem Aufleuchten aus Blitzen erscheint das Feuerweib wie ein goldener und schillernder Kolibri. Es singt, bezaubert und verzaubert. Mit einem verführerischen Putz liebt es das Leben und seine Schönheit.“ In der Tat erlebte das Publikum eine Femme fatale, die „auf der Suche nach verbotenen Vergnügungen … zugleich Engel und Teufel“ ist. Die flammenartigen Verzierungen an den Beinen der Modelle deuteten auf ihr „inneres Feuerwerk“ hin und die gesamte Erscheinung offenbarte das brennende Verlangen nach Liebe.

Für die Präsentation seiner farbenfrohen Kollektion „PREMIÈRE EXTASE“ am 24. Januar 2012 hatte sich das eingeladene Mitglied Julien Fournié aus Paris den Club „SHOWCASE“ unter dem Pont Alexandre III ausgesucht. Daneben ging aus der Zusammenarbeit mit den Ingenieuren und Informatikern der französischen Dassault Systèmes SA das neue digitale Programm „FashıonLab®“ hervor, womit ein Modeschöpfer anstelle der zweidimensionalen Zeichnung mit der Hand nunmehr Kleidungsstücke mit einer virtuellen dreidimensionalen Silhouette entwerfen kann. Am gleichen Tage präsentierte das Vollmitglied Gustavo Lins seine Kollektion „018“ als gebürtiger Brasilianer praktischerweise in den Räumen der Botschaft der Föderativen Republik Brasilien. Am 23. Januar 2012 zeigte das Vollmitglied Adeline André ihre neuen Roben und Cardigan-Mäntel aus Crêpe de Laine, Crêpe Georgette, Seidenjersey oder Baumwollpopeline, deren in zurückhaltender Einfachheit vorherrschendes Weiß ideal mit der Funktionalität der Stahl- und Glaskonstruktion eines Architekturbüros harmonierte.

Standortfaktoren

Dies zeichnet eine Haute-Couture-Schau aus, nämlich wenn das Publikum in eine künstlerische Sphäre erhoben wird. Es bleibt nicht Konsument einer gezielt auf Verkauf ausgerichteten Werbevorführung; es wird Rezipient einer Kunstdarbietung, bestenfalls in Gestalt eines viele Kunstgattungen umfassenden und auf alle Sinne wirkenden Gesamtkunstwerkes. So wie einfache Sprache durch künstlerische Hand zur Poesie erwächst, wird bloße Kleidung zur Haute Couture. In Berlin ist man davon noch weit entfernt. Über die Modebranche hierzulande schwebt scheinbar nach wie vor der Oberbegriff der Damenoberbekleidung aus den längst vergangenen Zeiten der Düsseldorfer Modemesse „IGEDO“ (Interessengemeinschaft Damenoberbekleidung) gleich einer Klammer. Eine Ausdifferenzierung unter Aufbrechen überkommener Strukturen und Denkmuster zur Entfaltung des kreativen Potentials nach oben hin ist überfällig, um attraktiver für das internationale Fachpublikum zu werden. Mit „Streetwear“ alleine und ohne die Festlegung nationaler Qualitätsstandards wird sich auf Dauer keine Modemetropole aufbauen lassen. Hier, in der Kreativwirtschaft, liegt Berlins ökonomische Chance abseits der Automobil- und Elektronikindustrie sowie der metallverarbeitenden und chemischen Industrie. Die international geachtete Modekritikerin Suzy Menkes war bisher einmal zur Modewoche in Berlin. Ihre für den strengen Blick auf die Entwürfe gefürchtete Kollegin Anna Vintour ward bisher gar nicht als Gast in Berlin gesichtet. In Paris zählen sie indessen zu den Stammgästen. Berlin mag „arm, aber sexy“ sein; Paris jedenfalls ist reich und sexy. Es ist Zeit für eine Revolution in der hiesigen Modewelt!


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