Der Berliner Modewoche folgte die Pariser Haute-Couture-Woche, was dazu einlädt, sich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Modestandorte zu vergegenwärtigen.
Vom 23. Januar 2012 bis zum 26. Januar
2012 stand Paris im Zeichen der hohen Schneiderkunst (Haute Couture).
Siebenundzwanzig von der Chambre Syndicale de la Haute Couture
anerkannte Veranstaltungen gaben dem internationalen Fachpublikum und
den ausgewählten privaten Gästen die Gelegenheit, die neuen
Entwürfe der Modeschöpfer kennenzulernen. Bei der Haute
Couture gehen anders als bei der Prêt-à-porter-Kleidung
und der Konfektion hochwertige Materialien, eine gelegentlich
verschwenderische Materialfülle, eine handwerkliche Perfektion
sowie künstlerische und teilweise experimentelle Ideen Hand in
Hand mit hohen Preisen. Ein Haute-Couture-Stück ist einmalig und
wird der Kundin sozusagen auf den Leib geschneidert. Die
niederländische Modeschöpferin Iris van Herpen brachte es vor
kurzem in der Fernsehsendung „ttt titel thesen temperamente“ auf den
Punkt: „Die Haute Couture zum Beispiel, das ist Kunst.“
Die Bezeichnung „haute couture“ ist in
Frankreich gesetzlich geschützt. Um die Mitgliedschaft in der auf
das Jahr 1868 zurückgehenden Chambre Syndicale de la Haute Couture
– heute Teil der Fédération Française de la
Couture du Prêt-à-Porter des Couturiers et des
Créateurs de Mode – zu erlangen, sind strenge Voraussetzungen zu
erfüllen. Die Anwärter für eine Vollmitgliedschaft
müssen in Paris einen Hauptsitz unterhalten, ein Maßatelier
mit mindestens fünfzehn Vollzeitangestellten betreiben wie auch in
einer Saison mindestens fünfunddreißig verschiedene, von
einem Modeschöpfer entworfene sowie von Hand gefertigte
Kleidungsstücke für Tages- und Abendmode auf einer Modenschau
in Paris vorstellen. Für jede Saison bedarf es einer neuen
Bewerbung und Überprüfung. Kraft der Vollmitgliedschaft gilt
für den Modeschöpfer die Bezeichnung „grand couturier“,
für das Modehaus die Bezeichnung „maison de couture“ und für
die Kleidungsstücke die Bezeichnung „haute couture“.
Zudem besteht seit dem Jahre 1997 für
Interessenten, die nicht alle Voraussetzungen erfüllen, der Status
eines eingeladenen Mitgliedes (membre invité), das die
Bezeichnung „couture“ verwenden darf. Außerdem kann seither ein
ausländischer Modeschöpfer beziehungsweise ausländisches
Modehaus korrespondierendes Mitglied (membre correspondant) werden und
sich wie Vollmitglieder der Bezeichnung „haute couture“ bedienen, wenn
dessen Wirken für die Pariser Modewelt bedeutsam genug ist.
Zusätzlich gibt es seit dem Jahre 2009 die Sparte „haute couture
accessoires“ und seit dem Jahre 2010 die Sparte „haute joaillerie“
für Schmuck. Für die aktuelle Saison Frühjahr/Sommer
2012 waren elf Vollmitglieder, fünf korrespondierende Mitglieder,
neun eingeladene Mitglieder, drei Mitglieder für Accessoires und
sechs Mitglieder für Luxusschmuck gemeldet. Vorbei sind die
Zeiten, als es kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges über
einhundert Vollmitglieder gegeben hatte, obwohl die Anforderungen
weitaus höher als heute gewesen waren.
Licht und
Schatten
Während aus der früheren Alta
Moda kommende italienische Marken wie „GIORGIO ARMANI“ und „VALENTINO“
unter den korrespondierenden Mitgliedern und die Marke „GIAMBATTISTA
VALLI“ unter den eingeladenen Mitgliedern zu finden sind, fehlen Marken
aus der Bundesrepublik Deutschland gänzlich. Immerhin ist der
Modeschöpfer Karl Lagerfeld für die Haute-Couture-Marke
„CHANEL“ in Paris kreativ tätig. In deutschen Landen hatte sich
anders als in Frankreich und Italien eine hohe Schneiderkunst mit
festen Regeln und Qualitätsmaßstäben sowie einer
zentralen, nationalen Organisation nie etablieren können; Berlin
hatte eher für die dort entwickelte Konfektion gestanden.
Sogar heutzutage tut man sich in Berlin
mit hochwertiger Mode schwer, wenngleich das schöpferische
Potential – man denke an die einheimischen Modeschöpfer Guido
Maria Kretschmer sowie Klaus Unrath und Ivan Strano – durchaus
vorhanden ist. Dies liegt wohl weniger am Wollen und Können der
einheimischen Modeschöpfer, sondern mehr an fehlenden finanziellen
Mitteln und einer geringen zahlungsbereiten Kundschaft. Mittlerweile
stehen hinter vielen international bekannten Modehäusern
international agierende, finanzstarke Mode- und Luxuskonzerne. Wenn
auch das einzelne Haute-Couture-Kleid überaus teuer ist, wird mit
der Prêt-à-porter-Kleidung sowie mit Accessoires und
Kosmetika mehr Umsatz erzielt. Insofern geht es bei der Haute Couture
mehr ums Prestige und Renommee eines Modeschöpfers beziehungsweise
eines Modehauses, falls man sie sich leisten kann. Beispielsweise
übernahm im Februar 2012 der Investmentfonds Fung Brands aus Hong
Kong zu 80 Prozent das Pariser Prêt-à-porter-Haus „SONIA
RYKIEL“, dessen Umsatz seit dem Jahre 2008 um rund zehn Millionen Euro
zurückgegangen war, um die Marke für den internationalen
Markt weiterzuentwickeln. In der Bundesrepublik Deutschland hingegen
hält sich das Modeengagement finanzstarker Konzerne in Grenzen. In
der Modewelt liegen eben Licht- und Schattenseiten dicht beieinander.
Orient
trifft Okzident
Die Modemetropole Paris ist eine nie
versiegende Inspirationsquelle, was nicht nur für die
Modeschöpfung, sondern auch für die Modepräsentation und
Modephotographie gilt. Am 25. Januar 2012 außerhalb des
offiziellen Veranstaltungskalenders stellte der aus Syrien stammende
und in Dubai arbeitende Modeschöpfer Rami Al Ali im „Salon
Pompadour“ des Hotels „LE MEURICE“ nahe der Place de la Concorde
erstmals in Paris seine neue Haute-Couture-Kollektion vor. Erfolgreich
war er bereits im Nahen Osten gewesen, wo er nach seinem Studium am
College of Fine Arts in Damaskus seine Karriere begonnen hatte. In Form
einer Installation waren nun die Modelle unterhalb des Bildnisses der
königlichen Mätresse Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de
Pompadour, um einen Kamin herum gruppiert. Die Hochzeits- und
Abendkleider teils aus transparenten Stoffen, teils mit Ausstanzungen
oder Paillettendekorationen bildeten einerseits einen orientalischen
Kontrast zum Louis-quatorze-Interieur des Salons, fügten sich
andererseits mit ihrer glamourösen Ausgestaltung ohne weiteres in
das noble Ambiente ein. Die Trägerinnen wurden so zu klugen und
zielstrebigen Verführerinnen wie einst die Mätresse. Für
Rami Al Ali, der mit Verhüllung und Enthüllung spielte,
bedeutet Haute Couture der „ultimative Luxus“.
Am gleichen Tage heizten in der
Veranstaltungsstätte „Garage Turenne“ die aus Bulgarien stammenden
und in Paris arbeitenden Accessoires-Mitglieder Livia S. Stoianova und
Yassen V. Samouilov mit einer feurigen Präsentation der Kollektion
„High Light Fire“ ihrer Marke „on aura tout vu“ dem Publikum
mächtig ein. Sie entführten das Publikum in eine wundersame
Welt aus „Tausendundein Funken und Lichtern“: „In einem Aufleuchten aus
Blitzen erscheint das Feuerweib wie ein goldener und schillernder
Kolibri. Es singt, bezaubert und verzaubert. Mit einem
verführerischen Putz liebt es das Leben und seine Schönheit.“
In der Tat erlebte das Publikum eine Femme fatale, die „auf der Suche
nach verbotenen Vergnügungen … zugleich Engel und Teufel“ ist. Die
flammenartigen Verzierungen an den Beinen der Modelle deuteten auf ihr
„inneres Feuerwerk“ hin und die gesamte Erscheinung offenbarte das
brennende Verlangen nach Liebe.
Für die Präsentation seiner
farbenfrohen Kollektion „PREMIÈRE EXTASE“ am 24. Januar 2012
hatte sich das eingeladene Mitglied Julien Fournié aus Paris den
Club „SHOWCASE“ unter dem Pont Alexandre III ausgesucht. Daneben ging
aus der Zusammenarbeit mit den Ingenieuren und Informatikern der
französischen Dassault Systèmes SA das neue digitale
Programm „FashıonLab®“ hervor, womit ein Modeschöpfer anstelle
der zweidimensionalen Zeichnung mit der Hand nunmehr
Kleidungsstücke mit einer virtuellen dreidimensionalen Silhouette
entwerfen kann. Am gleichen Tage präsentierte das Vollmitglied
Gustavo Lins seine Kollektion „018“ als gebürtiger Brasilianer
praktischerweise in den Räumen der Botschaft der Föderativen
Republik Brasilien. Am 23. Januar 2012 zeigte das Vollmitglied Adeline
André ihre neuen Roben und Cardigan-Mäntel aus Crêpe
de Laine, Crêpe Georgette, Seidenjersey oder Baumwollpopeline,
deren in zurückhaltender Einfachheit vorherrschendes Weiß
ideal mit der Funktionalität der Stahl- und Glaskonstruktion eines
Architekturbüros harmonierte.
Standortfaktoren
Dies zeichnet eine Haute-Couture-Schau
aus, nämlich wenn das Publikum in eine künstlerische
Sphäre erhoben wird. Es bleibt nicht Konsument einer gezielt auf
Verkauf ausgerichteten Werbevorführung; es wird Rezipient einer
Kunstdarbietung, bestenfalls in Gestalt eines viele Kunstgattungen
umfassenden und auf alle Sinne wirkenden Gesamtkunstwerkes. So wie
einfache Sprache durch künstlerische Hand zur Poesie
erwächst, wird bloße Kleidung zur Haute Couture. In Berlin
ist man davon noch weit entfernt. Über die Modebranche hierzulande
schwebt scheinbar nach wie vor der Oberbegriff der Damenoberbekleidung
aus den längst vergangenen Zeiten der Düsseldorfer Modemesse
„IGEDO“ (Interessengemeinschaft Damenoberbekleidung) gleich einer
Klammer. Eine Ausdifferenzierung unter Aufbrechen überkommener
Strukturen und Denkmuster zur Entfaltung des kreativen Potentials nach
oben hin ist überfällig, um attraktiver für das
internationale Fachpublikum zu werden. Mit „Streetwear“ alleine und
ohne die Festlegung nationaler Qualitätsstandards wird sich auf
Dauer keine Modemetropole aufbauen lassen. Hier, in der
Kreativwirtschaft, liegt Berlins ökonomische Chance abseits der
Automobil- und Elektronikindustrie sowie der metallverarbeitenden und
chemischen Industrie. Die international geachtete Modekritikerin Suzy
Menkes war bisher einmal zur Modewoche in Berlin. Ihre für den
strengen Blick auf die Entwürfe gefürchtete Kollegin Anna
Vintour ward bisher gar nicht als Gast in Berlin gesichtet. In Paris
zählen sie indessen zu den Stammgästen. Berlin mag „arm, aber
sexy“ sein; Paris jedenfalls ist reich und sexy. Es ist Zeit für
eine Revolution in der hiesigen Modewelt!